Schlussakkord. Ich atmete erleichtert auf und nahm vorsichtig den Fuß vom Pedal. Der Kommissionsvorsitzende bedankte sich, ich erhob mich und räumte die Noten vom Pult. Der leere Saal schallte unangenehm. Absätze auf Parkett. Wir telefonieren später, gab mir meine Lehrerin über die Schulter zu verstehen. Ich nickte und ging hinaus.
Ich lehnte mich gegen die kalte Wand des Korridors und ließ die gesamte Prüfung mehrmals Revue passieren. Die Arpeggios waren nicht aus der Form, sie liefen plätschernd, das Tempo war okay, die Ausgestaltung saß. Chopins Phantasien forderten Empfindsamkeit, man durfte jedoch nicht ins Träumen kommen. Ich hatte mich wochenlang geplagt, die richtige Tonalität gesucht, das Gleichgewicht. Jetzt hieß es nur noch abwarten und auf das Beste hoffen: auf den Sieg und das Stipendium.
Schon als Kind war ich eine kleine Träumerin gewesen, mir mangelte es nie an Phantasie. Ich sehnte mich nach einem großen Bruder und einer Krapfenmaschine, einer Barbiepuppe und einem Kätzchen, nach Schuhen mit Klettverschlüssen; später auch nach einer Brieffreundin in Schweden, einem Klavier, einem eigenen Zimmer. Und schließlich: nach dem Sieg im Wettbewerb, dem Auslandsstipendium und selbstverständlich einem Verehrer. Der sollte älter sein als ich und nett, und kultiviert … insgeheim hoffte ich, dass er Semiotiker wäre, mit einem Schal. Und darum traute ich bei der Abschlussfeier kaum meinen Augen – dort saß er und war so vollkommen! Genau, wie ich ihn mir erträumt hatte: groß, zerzauste Haare, mit Füllfederhalter und Aktentasche. Selbstbewusst, aber einfühlsam, belesen, diskutierte mit den Dozenten, lernte fleißig. Er war noch nicht immatrikuliert, aber was bedeutete das schon, ich war ihm auch so auf der Stelle verfallen.
Ich spionierte das ganze Semester herum, um herauszufinden, was er liest, und machte mir heimlich Notizen. Hemingway kannte ich natürlich, aber dieser russische Eisenbahnroman, wo ständig getrunken wurde, der war mir neu. Die Klassenkameraden, die ihn wie Jünger umgaben, lauschten ihm und erklärten bald allen, dass sie im Sommer nach Pamplona fahren wollten. Insgesamt umgab ihn die Aura eines Anführers, er war nach Genialität ausgerichtet. Er sagte nicht beziehungsweise, sondern respektive, und dann noch ergo, das kam aus dem Lateinischen. Bei Feiern war er ein geschätzter Redner, er hatte eine laute Stimme und wusste sich Ironie zu bedienen. Ich widmete ihm alle Phantasien Chopins, doch das war nur die Spitze des Eisbergs. Obendrein las ich diesen Roman über den Stierlauf, kaufte Platten von Bob Dylan, sah mir Tarantino-Filme im Kino an. Mit großer Mühe übersetzte ich den Monolog des wütenden Schwarzen, der so wild schimpfte! Nach dem Unterricht versteckte ich mich hinter der Schule, um dann wie von ungefähr aufzutauchen und mit ihm in den Trolleybus zu steigen. Ein paar schamlose Klassenkameradinnen stellten ihm ebenfalls nach, ich vertrieb sie, so gut ich konnte. Ich musste ständig auf der Lauer sein, die verbliebene Zeit gehörte dem Träumen. Ein langer Schal und die Aktentasche, darin die Bücher… mit so einem Jungen konnte man wohl im Schneetreiben spazieren gehen.
Die Zeit verging, und die Schulaufgaben blieben auf der Strecke, das Klavierspielen ebenso, meine Etüden wurden wackelig. Die Lehrerin schüttelte den Kopf, sprach es aber nicht direkt aus, verwies nur entfernt auf den Dezember. Zu meiner eigenen Überraschung merkte ich, dass der Wettbewerb mich kalt ließ, abends lümmelte ich auf dem Bett, mit Kopfhörern auf den Ohren. Vor meinem inneren Auge inszenierte ich dichterische Szenen, bei Schneefall schlenderten wir unter lauschig leuchtenden Laternen durch die Altstadt. Mein Liebster trug einen langen Mantel, er zog mich unter seinen Saum und hielt liebevoll meine Hand im Fäustling. Dann kehrten wir in ein spärlich beleuchtetes Café ein, auf den alten Tischen standen Kerzenhalter, das flackernde Licht erleuchtete mein Gesicht. Im Hintergrund sang Leonard Cohen mit seiner klangvollen Stimme „Take this waltz, I’m your man“. Gespräche führten wir keine in meinen Träumereien, Umarmungen gab es dafür reichlich.
In einer ausgedehnten Traumphase passierte es plötzlich, da war es bereits November. Wir standen im Epizentrum der außerschulischen Lebensplanung – der vergitterten Garderobe – und zogen uns die Straßenschuhe an. Ich kramte gerade nach etwas in meiner Tasche, als er sich schwungvoll gegen die Tür lehnte und mich ansah. Die Stäbe der Gitterwand bebten, ich wendete meinen Kopf. Hör mal, was, wenn wir Freitagabend, was meinst du, in der Altstadt, einen Drink oder zwei?
Die Zeit blieb stehen. Dreißig Paar Turnschuhe in Plastiktüten hingen an ihren Haken, die Putzfrau raschelte mit ihren Lappen. Aus der Ferne hörte man jemanden in der Sporthalle mit einem Ball dribbeln, die Sonne schien, aus der Kantine wehte der Geruch von Kohl herüber. Freitagabend, er und ich, in der Altstadt! Ein Drink oder zwei! Ich fühlte mich wie ein Glückspilz. Mein Herz pochte, alles war wie im Film. Ich krallte mich krampfhaft an den Träger meiner Tasche. Machen wir, nickte ich, lass uns nachher reden, ich habe jetzt meine Klavierstunde. Ich griff nach meinen Noten und ging hinaus. Hinter der Schule stützte ich mich an die Wand. So spürte ich, wie sich ein drittes Auge öffnete, mit dem ich bald ein vollwertiges Leben erfassen sollte, das am Freitag um achtzehn Uhr begann.
Tag für Tag wurde ich nur noch nervöser, ich war vorher noch nie mit so einer Sache in Berührung gekommen. Anstatt mich mit Jungen zu beschäftigen, verbrachte ich meine Freizeit mit Üben, in die Altstadt ging ich nur für Konzerte. Wohin er mich wohl ausführen wollte? Würde man uns hineinlassen? Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er mich nicht um Rat fragen würde. Ebenso wenig wusste ich, was ein Drink oder zwei bedeuten sollte. Bier und Kaffee trank ich nicht, Wein verkaufte man mir nicht. Könnte ein Drink oder zwei auch Kakao sein? Ich hatte dutzende Fragen. Mein Unwissen mischte sich mit Adrenalin, Nervenkitzel mit Wunschvorstellungen. Ich wusste nicht mehr, ob ich fröhlich oder ängstlich war, ob ich den Freitag mit Spannung erwartete oder nur den Gedanken daran.
Die Uhr jedoch tickte unaufhaltsam, und schließlich war es soweit. Donnerstagabend bildete sich eine dicke Schneedecke, und ich bekam Durchfall. Schon in der Nacht brachen winterlich-frostige Temperaturen ein, sie sanken mit jeder Stunde. Als ich am Freitag in die Stadt fuhr, zog ein Schneegestöber auf, die Menschen froren an den Haltestellen, die Nasen waren in den Kragen vergraben. Ich war schrecklich nervös, ging unterwegs auf Toilette, den Player mit Leonard hatte ich zuhause vergessen. Beim Busfahrer lief russischsprachiges Radio, die Fenster waren beschlagen, der Trolleybus knirschte. Zwischendurch sprang das Geweih aus der Leitung, aber nichtsdestotrotz erreichte er sein Ziel. Hinter der Ecke des Rathauses kontrollierte ich noch flink den Lippenstift, der winzige Spiegel beschlug.
Er wartete in der Mitte des Platzes auf mich, in einer riesengroßen Wattejacke wie ein Michelin-Männchen, und wärmte sich die Hände. Während ich auf ihn zuging, musterte ich ihn. Auf seiner Mütze stand KARHU, vom Schal war keine Spur, auch von der Aktentasche nicht. Wir umarmten uns verlegen, und er führte mich in einen Pub, der im Grunde genommen nur Schüler und Finnen anzog.
Wir setzten uns in eine dunkle Ecke, auf dem Tisch brannte eine Kerze, ich schob meinen Ranzen unter den Stuhl. Die Fäustlinge stopfte ich in meinen Jackenärmel und schielte dabei heimlich zu ihm und seiner leuchtend roten Nase. Das rote Fußballshirt unterstrich seine hellen Wimpern. Meine eigene rote Nase lag verborgen unter der Abdeckcreme meiner Mutter.
„Was hättest du gerne?“
Ich spähte zum Nachbartisch und wusste nicht, was ich wählen sollte. An Geburtstagen hatte ich selbstverständlich schon einmal Wein probiert, aber ich zog stets Pflaumensaft vor. Birnencider? Und was waren Cuba Libre und Sambuca? Ich fischte nach der Getränkekarte und biss mir auf die Lippe. Mein Gefährte rief zur Bar: „Garçon, ein Originaal!“ Ein schnurrbärtiger Mann kam mit einem Bier. Gott im Himmel, ich weiß nicht, einen Kakao vielleicht? Der Mann schmunzelte und verschwand hinter der Theke. Ich kratzte etwas Wachs von der Kerze und errötete.
Je weiter die Zeit fortschritt, desto unwohler wurde mir. Ich nippte an dem Getränk, drehte den Löffel hin und her, mir war flau zumute. Er war auch aufgeregt, spülte sein Bier hinunter, über seiner dünnen, roten Oberlippe kräuselte sich der Schaum. Die kleinen dünnen Haare hatte ich dort noch nie bemerkt. Dann fing er ein Gespräch an, laut, die Sommis am Nebentisch blickten herüber. Wir durchquerten im Schnelllauf die Themen Tallinn vs. Tartu, Saku vs. A le Coq, Hemingway, Kerouac, Pulp Fiction, Fight Club, Monty Python, Beavis & Butthead, Roskilde, Sziget. Nacharbeit, der Geschichtslehrer, Eurovision, Tarantinos neuster Film. Dann trat Stille ein. Er stand auf und holte sich ein neues Bier. Sein Gang schien irgendwie federnd. Ich stahl mich zur Toilette und färbte meine Lippen, die letzte Schicht war am Tassenrand geblieben.
Als ich zurückkam, drehte er sein Bierglas in der Hand, den Blick am Fernseher, dort wurde Fußball gespielt. Wir sprachen ein bisschen über die englische Liga und davon, wie Sport den Krieg fernhält. Er hatte in diesem Bereich umfassende Kenntnisse, aber dann gingen ihm wohl auch diese aus. Ich griff nach einem Stück Zucker und wärmte die Hände an der Tasse. Spannung lag in der Luft, was jetzt wohl käme. In meinem Inneren trat eine ekelhafte Vorahnung an den Platz von Romantik und Nervenkitzel, die Stille nahm zu, die Zeit um uns dehnte sich.
Mein Gefährte zappelte auf seinem Stuhl hin und her und beugte sich nach vorne, sein Adamsapfel zuckte. Ich schluckte. Dann schob er die Kerze zur Seite, beugte sich auf den Tisch, die rechte Hand vorgestreckt. Ich senkte meinen Blick ruckartig, in meinem Bauch stach es wie vor einer Prüfung. Ich spielte mit meiner Tasse, mein Herz pochte. Die Haut an seinen Fingerknöcheln war rau und rot… und dann rutschte die Hand langsam näher.
Ich erstarrte auf meinem Sitz und stierte auf sein Handgelenk, das mich an eine fette Kreuzotter erinnerte. Sie kroch langsam aber bestimmt in meine Richtung, ich saß gelähmt da wie eine verängstigte Maus. Die Hand hielt nicht an, sie kam immer näher, bereit zuzugreifen, zu verschlingen … schließlich erwachte ich aus der Trance, ich zog meine Handfläche vom Tisch und stieß dabei plump gegen die Kerze. Das flüssige Wachs löschte die Flamme, doch die Kerze blieb aufrecht stehen. Auch seine Hand zog sich zurück.
„Bestellen wir noch etwas?“
Unbeholfen verkrampfte ich meine Hand unter den Sitz, sein ManU-Shirt flammte vor meinen Augen auf. Ich bemerkte abscheuliche kleine Pusteln an seinem Hals. Der Typ meiner Träume hatte keine Pusteln. Und generell war alles anders, auch die Haare auf seinen Armen und der unsichere Blick. Ich wollte mit ihm nicht im Schneefall spazieren gehen gehen, vom Händchenhalten ganz zu schweigen. Ich wollte in mein Zimmer, an mein Klavier, zu den Büchern, wo es nicht so einen Ochsen gäbe; ich wollte mit meinen Eltern die Nachrichten schauen und Uncle Ben's mit Ananas essen.
Die Uhr hatte die Zehn erreicht, da gingen wir endlich. Schnell mit dem Taxi nach Hause, dachte ich nur. Das Universum hatte jedoch andere, bösartigere Pläne. Wir traten nach draußen, der Wind schlug uns ins Gesicht, das Thermometer am Rathaus zeigte –20. Der Taxistand war leer. Die gelben Wagen fuhren an uns vorbei. Mit den Piraten – den illegalen – durfte ich nicht fahren. Die Laternen flimmerten. Also joggten wir, unsere Rücken vor Kälte gekrümmt, am Kiosk vorbei bis zur Haltestelle. Die Stadt war wie ausgestorben, nur einzelne Gestalten hier und da.
Ich spürte, wie meine Zehen in den Stiefeln vor Kälte stachen, die Autos rauschten vorbei, auf dem Weg türmten sich überall hohe Schneewehen auf. Der Trolleybus kam rasch, er hielt mit einem Ächzen an, das helle Licht stach in den Augen. Bald zu Hause, dachte ich erleichtert, aber dann trat er näher, und ich begriff erschrocken, dass der Abend noch lange nicht vorbei war. Er wohnte auf der anderen Straßenseite von uns, und plötzlich wusste ich genau, was mich erwartete. Er würde mich nach Hause bringen und dann, vor der Haustür, auf der Treppe... Die Vorahnung ließ meine Beine schwach werden.
Der Trolleybus schaukelte und krachte, und die Haltestellen flogen an uns vorbei. Ich hatte regelrechte Panik. Ich wollte nicht, dass mein erster Kuss in der gelben Dämmerung eines Betonplattenbaus mit meinem beflaumten Klassenkameraden stattfinden würde, schrecklich, schrecklich, was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Die Türen öffneten sich, und auf die unterste Stufe fiel jede Menge feiner Schnee. Und dann sah ich meine Gelegenheit.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell. Und da war er wieder.
Wir stapften weiter. Der Wind wirbelte zwischen den Plattenbauten hindurch. Drei Haltestellen, ich zählte sie hinunter. Die Zeit tickte gnadenlos, die Straßenlaternen schienen gedimmt. Es gab elektrische Dreiecke an den Fenstern, in einiger Entfernung erklang der nächste Trolleybus. Die kahlen Bäume warfen ihre Schatten in den Schnee, die Rohre der Geräte auf dem Spielplatz leuchteten. Was ist, wenn ich sie anlecke, dachte ich verzweifelt, um es hinauszuzögern...
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Die Lampe über den Stufen flackerte. Er blieb stehen und zog die Handschuhe aus. Ich schaute mit klopfendem Herzen nach unten und wusste, dass es kommen würde. „So ein schöner Abend! Du bist ein besonderes Mädchen. Könnte ich...?"
Kannst du nicht!, seufzte ich innerlich.
Die rote Nase kam näher, das KARHU-Etikett kam näher. Ich roch Deo und Bier. Es gab keinen Pfosten mehr, keinen Rückzugsort. Die Zeit war abgelaufen. Ich will zurück, schaffte ich noch zu denken. Auch das noch!
Die Pfosten waren zurück, der Zehnte, der Neunte, die Panik und die Schneewehen. Der Wind trug uns fort, und wir schwebten an die Haltestelle, in den Trolleybus. Der schaukelte rückwärts in die Stadt, die Zeit trieb uns in die Kneipe, zum Tisch ganz hinten. Und dann waren wir wieder in der Schulgarderobe.
Hinter den staubigen Fenstern leuchteten Bäume, es hatte noch nicht zu schneien begonnen. Aus der Turnhalle hörte man einen Ball gegen die Wand prallen. Hör zu. Was, wenn wir Freitagabend ... einen Drink oder zwei?
*
Ich fuhr zusammen. Die Tür zum Flur öffnete sich, meine Lehrerin stand vor mir. Sie winkte mich zu sich und schloss die Tür. Komm, lass uns kurz reden.
echnisch war alles einwandfrei, sie waren mit der Etüde und dem langen Stück zufrieden. Beherrscht das Instrument, hatte jemand notiert, überzeugend und sicher, Talent ist da. Nur diese Phantasie, schwach und halbherzig, wenig nuanciert, dazu flach, verträumt. Chopin dagegen - mehr Mut und Tempo! Lass sie nochmal spielen, mit Hingabe. Immerhin steht ein Stipendium auf dem Spiel. Einverstanden?
Ich senkte den Blick, meine Kehle schnürte zu. Auch das noch, dachte ich. Mama muss heute Krapfen machen, die mag ich am liebsten.
Ich lehnte mich gegen die kalte Wand des Korridors und ließ die gesamte Prüfung mehrmals Revue passieren. Die Arpeggios waren nicht aus der Form, sie liefen plätschernd, das Tempo war okay, die Ausgestaltung saß. Chopins Phantasien forderten Empfindsamkeit, man durfte jedoch nicht ins Träumen kommen. Ich hatte mich wochenlang geplagt, die richtige Tonalität gesucht, das Gleichgewicht. Jetzt hieß es nur noch abwarten und auf das Beste hoffen: auf den Sieg und das Stipendium.
Schon als Kind war ich eine kleine Träumerin gewesen, mir mangelte es nie an Phantasie. Ich sehnte mich nach einem großen Bruder und einer Krapfenmaschine, einer Barbiepuppe und einem Kätzchen, nach Schuhen mit Klettverschlüssen; später auch nach einer Brieffreundin in Schweden, einem Klavier, einem eigenen Zimmer. Und schließlich: nach dem Sieg im Wettbewerb, dem Auslandsstipendium und selbstverständlich einem Verehrer. Der sollte älter sein als ich und nett, und kultiviert … insgeheim hoffte ich, dass er Semiotiker wäre, mit einem Schal. Und darum traute ich bei der Abschlussfeier kaum meinen Augen – dort saß er und war so vollkommen! Genau, wie ich ihn mir erträumt hatte: groß, zerzauste Haare, mit Füllfederhalter und Aktentasche. Selbstbewusst, aber einfühlsam, belesen, diskutierte mit den Dozenten, lernte fleißig. Er war noch nicht immatrikuliert, aber was bedeutete das schon, ich war ihm auch so auf der Stelle verfallen.
Ich spionierte das ganze Semester herum, um herauszufinden, was er liest, und machte mir heimlich Notizen. Hemingway kannte ich natürlich, aber dieser russische Eisenbahnroman, wo ständig getrunken wurde, der war mir neu. Die Klassenkameraden, die ihn wie Jünger umgaben, lauschten ihm und erklärten bald allen, dass sie im Sommer nach Pamplona fahren wollten. Insgesamt umgab ihn die Aura eines Anführers, er war nach Genialität ausgerichtet. Er sagte nicht beziehungsweise, sondern respektive, und dann noch ergo, das kam aus dem Lateinischen. Bei Feiern war er ein geschätzter Redner, er hatte eine laute Stimme und wusste sich Ironie zu bedienen. Ich widmete ihm alle Phantasien Chopins, doch das war nur die Spitze des Eisbergs. Obendrein las ich diesen Roman über den Stierlauf, kaufte Platten von Bob Dylan, sah mir Tarantino-Filme im Kino an. Mit großer Mühe übersetzte ich den Monolog des wütenden Schwarzen, der so wild schimpfte! Nach dem Unterricht versteckte ich mich hinter der Schule, um dann wie von ungefähr aufzutauchen und mit ihm in den Trolleybus zu steigen. Ein paar schamlose Klassenkameradinnen stellten ihm ebenfalls nach, ich vertrieb sie, so gut ich konnte. Ich musste ständig auf der Lauer sein, die verbliebene Zeit gehörte dem Träumen. Ein langer Schal und die Aktentasche, darin die Bücher… mit so einem Jungen konnte man wohl im Schneetreiben spazieren gehen.
Die Zeit verging, und die Schulaufgaben blieben auf der Strecke, das Klavierspielen ebenso, meine Etüden wurden wackelig. Die Lehrerin schüttelte den Kopf, sprach es aber nicht direkt aus, verwies nur entfernt auf den Dezember. Zu meiner eigenen Überraschung merkte ich, dass der Wettbewerb mich kalt ließ, abends lümmelte ich auf dem Bett, mit Kopfhörern auf den Ohren. Vor meinem inneren Auge inszenierte ich dichterische Szenen, bei Schneefall schlenderten wir unter lauschig leuchtenden Laternen durch die Altstadt. Mein Liebster trug einen langen Mantel, er zog mich unter seinen Saum und hielt liebevoll meine Hand im Fäustling. Dann kehrten wir in ein spärlich beleuchtetes Café ein, auf den alten Tischen standen Kerzenhalter, das flackernde Licht erleuchtete mein Gesicht. Im Hintergrund sang Leonard Cohen mit seiner klangvollen Stimme „Take this waltz, I’m your man“. Gespräche führten wir keine in meinen Träumereien, Umarmungen gab es dafür reichlich.
In einer ausgedehnten Traumphase passierte es plötzlich, da war es bereits November. Wir standen im Epizentrum der außerschulischen Lebensplanung – der vergitterten Garderobe – und zogen uns die Straßenschuhe an. Ich kramte gerade nach etwas in meiner Tasche, als er sich schwungvoll gegen die Tür lehnte und mich ansah. Die Stäbe der Gitterwand bebten, ich wendete meinen Kopf. Hör mal, was, wenn wir Freitagabend, was meinst du, in der Altstadt, einen Drink oder zwei?
Die Zeit blieb stehen. Dreißig Paar Turnschuhe in Plastiktüten hingen an ihren Haken, die Putzfrau raschelte mit ihren Lappen. Aus der Ferne hörte man jemanden in der Sporthalle mit einem Ball dribbeln, die Sonne schien, aus der Kantine wehte der Geruch von Kohl herüber. Freitagabend, er und ich, in der Altstadt! Ein Drink oder zwei! Ich fühlte mich wie ein Glückspilz. Mein Herz pochte, alles war wie im Film. Ich krallte mich krampfhaft an den Träger meiner Tasche. Machen wir, nickte ich, lass uns nachher reden, ich habe jetzt meine Klavierstunde. Ich griff nach meinen Noten und ging hinaus. Hinter der Schule stützte ich mich an die Wand. So spürte ich, wie sich ein drittes Auge öffnete, mit dem ich bald ein vollwertiges Leben erfassen sollte, das am Freitag um achtzehn Uhr begann.
Tag für Tag wurde ich nur noch nervöser, ich war vorher noch nie mit so einer Sache in Berührung gekommen. Anstatt mich mit Jungen zu beschäftigen, verbrachte ich meine Freizeit mit Üben, in die Altstadt ging ich nur für Konzerte. Wohin er mich wohl ausführen wollte? Würde man uns hineinlassen? Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er mich nicht um Rat fragen würde. Ebenso wenig wusste ich, was ein Drink oder zwei bedeuten sollte. Bier und Kaffee trank ich nicht, Wein verkaufte man mir nicht. Könnte ein Drink oder zwei auch Kakao sein? Ich hatte dutzende Fragen. Mein Unwissen mischte sich mit Adrenalin, Nervenkitzel mit Wunschvorstellungen. Ich wusste nicht mehr, ob ich fröhlich oder ängstlich war, ob ich den Freitag mit Spannung erwartete oder nur den Gedanken daran.
Die Uhr jedoch tickte unaufhaltsam, und schließlich war es soweit. Donnerstagabend bildete sich eine dicke Schneedecke, und ich bekam Durchfall. Schon in der Nacht brachen winterlich-frostige Temperaturen ein, sie sanken mit jeder Stunde. Als ich am Freitag in die Stadt fuhr, zog ein Schneegestöber auf, die Menschen froren an den Haltestellen, die Nasen waren in den Kragen vergraben. Ich war schrecklich nervös, ging unterwegs auf Toilette, den Player mit Leonard hatte ich zuhause vergessen. Beim Busfahrer lief russischsprachiges Radio, die Fenster waren beschlagen, der Trolleybus knirschte. Zwischendurch sprang das Geweih aus der Leitung, aber nichtsdestotrotz erreichte er sein Ziel. Hinter der Ecke des Rathauses kontrollierte ich noch flink den Lippenstift, der winzige Spiegel beschlug.
Er wartete in der Mitte des Platzes auf mich, in einer riesengroßen Wattejacke wie ein Michelin-Männchen, und wärmte sich die Hände. Während ich auf ihn zuging, musterte ich ihn. Auf seiner Mütze stand KARHU, vom Schal war keine Spur, auch von der Aktentasche nicht. Wir umarmten uns verlegen, und er führte mich in einen Pub, der im Grunde genommen nur Schüler und Finnen anzog.
Wir setzten uns in eine dunkle Ecke, auf dem Tisch brannte eine Kerze, ich schob meinen Ranzen unter den Stuhl. Die Fäustlinge stopfte ich in meinen Jackenärmel und schielte dabei heimlich zu ihm und seiner leuchtend roten Nase. Das rote Fußballshirt unterstrich seine hellen Wimpern. Meine eigene rote Nase lag verborgen unter der Abdeckcreme meiner Mutter.
„Was hättest du gerne?“
Ich spähte zum Nachbartisch und wusste nicht, was ich wählen sollte. An Geburtstagen hatte ich selbstverständlich schon einmal Wein probiert, aber ich zog stets Pflaumensaft vor. Birnencider? Und was waren Cuba Libre und Sambuca? Ich fischte nach der Getränkekarte und biss mir auf die Lippe. Mein Gefährte rief zur Bar: „Garçon, ein Originaal!“ Ein schnurrbärtiger Mann kam mit einem Bier. Gott im Himmel, ich weiß nicht, einen Kakao vielleicht? Der Mann schmunzelte und verschwand hinter der Theke. Ich kratzte etwas Wachs von der Kerze und errötete.
Je weiter die Zeit fortschritt, desto unwohler wurde mir. Ich nippte an dem Getränk, drehte den Löffel hin und her, mir war flau zumute. Er war auch aufgeregt, spülte sein Bier hinunter, über seiner dünnen, roten Oberlippe kräuselte sich der Schaum. Die kleinen dünnen Haare hatte ich dort noch nie bemerkt. Dann fing er ein Gespräch an, laut, die Sommis am Nebentisch blickten herüber. Wir durchquerten im Schnelllauf die Themen Tallinn vs. Tartu, Saku vs. A le Coq, Hemingway, Kerouac, Pulp Fiction, Fight Club, Monty Python, Beavis & Butthead, Roskilde, Sziget. Nacharbeit, der Geschichtslehrer, Eurovision, Tarantinos neuster Film. Dann trat Stille ein. Er stand auf und holte sich ein neues Bier. Sein Gang schien irgendwie federnd. Ich stahl mich zur Toilette und färbte meine Lippen, die letzte Schicht war am Tassenrand geblieben.
Als ich zurückkam, drehte er sein Bierglas in der Hand, den Blick am Fernseher, dort wurde Fußball gespielt. Wir sprachen ein bisschen über die englische Liga und davon, wie Sport den Krieg fernhält. Er hatte in diesem Bereich umfassende Kenntnisse, aber dann gingen ihm wohl auch diese aus. Ich griff nach einem Stück Zucker und wärmte die Hände an der Tasse. Spannung lag in der Luft, was jetzt wohl käme. In meinem Inneren trat eine ekelhafte Vorahnung an den Platz von Romantik und Nervenkitzel, die Stille nahm zu, die Zeit um uns dehnte sich.
Mein Gefährte zappelte auf seinem Stuhl hin und her und beugte sich nach vorne, sein Adamsapfel zuckte. Ich schluckte. Dann schob er die Kerze zur Seite, beugte sich auf den Tisch, die rechte Hand vorgestreckt. Ich senkte meinen Blick ruckartig, in meinem Bauch stach es wie vor einer Prüfung. Ich spielte mit meiner Tasse, mein Herz pochte. Die Haut an seinen Fingerknöcheln war rau und rot… und dann rutschte die Hand langsam näher.
Ich erstarrte auf meinem Sitz und stierte auf sein Handgelenk, das mich an eine fette Kreuzotter erinnerte. Sie kroch langsam aber bestimmt in meine Richtung, ich saß gelähmt da wie eine verängstigte Maus. Die Hand hielt nicht an, sie kam immer näher, bereit zuzugreifen, zu verschlingen … schließlich erwachte ich aus der Trance, ich zog meine Handfläche vom Tisch und stieß dabei plump gegen die Kerze. Das flüssige Wachs löschte die Flamme, doch die Kerze blieb aufrecht stehen. Auch seine Hand zog sich zurück.
„Bestellen wir noch etwas?“
Unbeholfen verkrampfte ich meine Hand unter den Sitz, sein ManU-Shirt flammte vor meinen Augen auf. Ich bemerkte abscheuliche kleine Pusteln an seinem Hals. Der Typ meiner Träume hatte keine Pusteln. Und generell war alles anders, auch die Haare auf seinen Armen und der unsichere Blick. Ich wollte mit ihm nicht im Schneefall spazieren gehen gehen, vom Händchenhalten ganz zu schweigen. Ich wollte in mein Zimmer, an mein Klavier, zu den Büchern, wo es nicht so einen Ochsen gäbe; ich wollte mit meinen Eltern die Nachrichten schauen und Uncle Ben's mit Ananas essen.
Die Uhr hatte die Zehn erreicht, da gingen wir endlich. Schnell mit dem Taxi nach Hause, dachte ich nur. Das Universum hatte jedoch andere, bösartigere Pläne. Wir traten nach draußen, der Wind schlug uns ins Gesicht, das Thermometer am Rathaus zeigte –20. Der Taxistand war leer. Die gelben Wagen fuhren an uns vorbei. Mit den Piraten – den illegalen – durfte ich nicht fahren. Die Laternen flimmerten. Also joggten wir, unsere Rücken vor Kälte gekrümmt, am Kiosk vorbei bis zur Haltestelle. Die Stadt war wie ausgestorben, nur einzelne Gestalten hier und da.
Ich spürte, wie meine Zehen in den Stiefeln vor Kälte stachen, die Autos rauschten vorbei, auf dem Weg türmten sich überall hohe Schneewehen auf. Der Trolleybus kam rasch, er hielt mit einem Ächzen an, das helle Licht stach in den Augen. Bald zu Hause, dachte ich erleichtert, aber dann trat er näher, und ich begriff erschrocken, dass der Abend noch lange nicht vorbei war. Er wohnte auf der anderen Straßenseite von uns, und plötzlich wusste ich genau, was mich erwartete. Er würde mich nach Hause bringen und dann, vor der Haustür, auf der Treppe... Die Vorahnung ließ meine Beine schwach werden.
Der Trolleybus schaukelte und krachte, und die Haltestellen flogen an uns vorbei. Ich hatte regelrechte Panik. Ich wollte nicht, dass mein erster Kuss in der gelben Dämmerung eines Betonplattenbaus mit meinem beflaumten Klassenkameraden stattfinden würde, schrecklich, schrecklich, was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Die Türen öffneten sich, und auf die unterste Stufe fiel jede Menge feiner Schnee. Und dann sah ich meine Gelegenheit.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell. Und da war er wieder.
Wir stapften weiter. Der Wind wirbelte zwischen den Plattenbauten hindurch. Drei Haltestellen, ich zählte sie hinunter. Die Zeit tickte gnadenlos, die Straßenlaternen schienen gedimmt. Es gab elektrische Dreiecke an den Fenstern, in einiger Entfernung erklang der nächste Trolleybus. Die kahlen Bäume warfen ihre Schatten in den Schnee, die Rohre der Geräte auf dem Spielplatz leuchteten. Was ist, wenn ich sie anlecke, dachte ich verzweifelt, um es hinauszuzögern...
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Die Lampe über den Stufen flackerte. Er blieb stehen und zog die Handschuhe aus. Ich schaute mit klopfendem Herzen nach unten und wusste, dass es kommen würde. „So ein schöner Abend! Du bist ein besonderes Mädchen. Könnte ich...?"
Kannst du nicht!, seufzte ich innerlich.
Die rote Nase kam näher, das KARHU-Etikett kam näher. Ich roch Deo und Bier. Es gab keinen Pfosten mehr, keinen Rückzugsort. Die Zeit war abgelaufen. Ich will zurück, schaffte ich noch zu denken. Auch das noch!
Die Pfosten waren zurück, der Zehnte, der Neunte, die Panik und die Schneewehen. Der Wind trug uns fort, und wir schwebten an die Haltestelle, in den Trolleybus. Der schaukelte rückwärts in die Stadt, die Zeit trieb uns in die Kneipe, zum Tisch ganz hinten. Und dann waren wir wieder in der Schulgarderobe.
Hinter den staubigen Fenstern leuchteten Bäume, es hatte noch nicht zu schneien begonnen. Aus der Turnhalle hörte man einen Ball gegen die Wand prallen. Hör zu. Was, wenn wir Freitagabend ... einen Drink oder zwei?
*
Ich fuhr zusammen. Die Tür zum Flur öffnete sich, meine Lehrerin stand vor mir. Sie winkte mich zu sich und schloss die Tür. Komm, lass uns kurz reden.
echnisch war alles einwandfrei, sie waren mit der Etüde und dem langen Stück zufrieden. Beherrscht das Instrument, hatte jemand notiert, überzeugend und sicher, Talent ist da. Nur diese Phantasie, schwach und halbherzig, wenig nuanciert, dazu flach, verträumt. Chopin dagegen - mehr Mut und Tempo! Lass sie nochmal spielen, mit Hingabe. Immerhin steht ein Stipendium auf dem Spiel. Einverstanden?
Ich senkte den Blick, meine Kehle schnürte zu. Auch das noch, dachte ich. Mama muss heute Krapfen machen, die mag ich am liebsten.
Aus dem Estnischen von Marcel Knorn
Published in German in Neue Nordische Novellen VII, Heiner Labonde 2021
Eestikeelne novell on ilmunud Loomingu numbris 2/2019 ja kogumikus "Eesti novell" 2020. Seda saab lugeda siit.
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