Ich stieß die Ladentür auf. Seit Roberts Brief auf dem Küchentisch war ein ganzes Jahr vergangen, jetzt war ich bereit für einen Neuanfang. Ich wollte einen verlässlichen Freund, der mir zur Seite stünde, aber gleichzeitig unbekümmert und selbstständig sein musste. Die Verkäuferin zögerte keine Sekunde. Sie wusste sofort, was ich brauchte.
„Exotisch und weich,“ sagte sie. „Vernünftig und unabhängig, ausdrucksstark, lässt sich gerne streicheln und bewacht das Haus.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus, ja, er war wirklich weich. Ich nahm ihn sofort mit.
Aber das andere, das erwähnte die Verkäuferin mit keinem Sterbenswörtchen.
KOMM SOFORT, schrieb der Tiger. HUNGER. STIMMUNG ÄUSSERST MISERABEL. T.
Ich knüllte das Telegramm zusammen und seufzte. Die Forderungen wurden immer dreister. Ich will es ja gar nicht verschweigen – der Tiger ließ sich wirklich gerne streicheln und bewachte mein Haus, aber dazu dreimal täglich ein dringendes Telegramm! Anfangs freute ich mich noch über eine Nachricht von ihm – wer kriegt nicht gerne Post von zu Hause! Aber je länger es dauerte, desto anspruchsvoller wurde sein Ton, und schließlich stieg er auf die Telegramme um. Die Lage verschlimmerte sich rapide, bald verstrich kein Tag mehr ohne eine Nachricht vom Tiger. Mit Selbstständigkeit hatte das nichts zu tun.
Im Frühjahr war die Schublade auf der Arbeit voll mit Telegrammen vom Tiger, und alle meine Haushaltstage waren aufgebraucht. Im April war ich eine ganze Woche zu Hause, weil der Tiger es so wollte. Er baute sich eine Hütte vor der Tür und saß dort tagelang, nicht einmal für sein Geschäft entfernte er sich. Erst als der Kühlschrank leer war, ließ er mich auf den Markt, aber nur in die Fleischabteilung. Und er gab mir einen Einkaufszettel mit: Wild und Pastete. Salat durfte ich im Kühlschrank nicht aufbewahren, er sagte, das sei was für Hasen. Abends sorgte er dafür, dass ich zeitig ins Bett ging, und zog mit aufgestelltem Schwanz seine Kreise um mein Bett. Die Lage ähnelte gefährlich meiner Vergangenheit. War der Tiger am Ende ein Bekannter von Robert? Aber egal, das führt zu weit, lassen wir das.
Sprechen wir lieber über die Arbeit.
Was ich sagen will, ist, dass ich mich ja nicht ständig mitten am Tag davonmachen konnte. Jede Woche der gleiche Ärger. Alle meine Kollegen wussten es, sogar der Wachmann, sie waren teilnahmsvoll und mitfühlend. Vermutlich erinnerten sie sich an die Vergangenheit und machten sich Sorgen, dass ich den gleichen Fehler noch einmal machen würde. Ich widersprach ihnen aber, ich wollte nicht bemitleidet werden und sagte, dass ich diesmal einen Selbstständigen habe. Aber am Ende wurden die Nachrichten vom Tiger doch so erdrückend, dass ich mich schweren Herzens auf den Nachhauseweg machte. Monatelang ging das so. Mein ganzer Jahresurlaub war schon für den Tiger draufgegangen. Und so fasste ich den Entschluss, dass es jetzt reichte, das Maß war voll. Ich redete mit dem Tiger, ich hatte ein Gespräch mit dem Therapeuten, alles
schien klar. Wir legten Grenzen fest und was wir voneinander erwarten konnten, mit den Telegrammen musste jetzt Schluss sein. Aber schon am nächsten Tag kam das Telegramm, das ich bereits erwähnt habe:
KOMM SOFORT. HUNGER. STIMMUNG ÄUSSERST MISERABEL. T.
Ich warf den Wisch in den Papierkorb und dachte, denkste, Tiger, diesmal nicht. Für den Abend legte ich mir alles im Kopf zurecht: Die Deadline des Projekts, Sitzung, Protokoll schreiben, ich konnte einfach nicht eher kommen ... Ich probierte es sogar vor dem Spiegel aus, damit es natürlich rüberkam. Dann setzte ich mich wieder an den Schreibtisch, sah die Berichte durch und ging mit Kollegen mittagessen. Ich fühlte mich stark. Aber als ich ins Büro zurückkam, winkte mich die Sekretärin mitfühlend zu sich. Auf der Tischkante lag ein Telegramm. Ich begleitete sie mit den Augen zur Tür und faltete das Papier auf.
KÜCHE LEER DREIMAL KONTROLLIERT BITTE BEEILUNG. T.
Ich spürte ein Kneifen im Bauch, und mir wurde schwarz vor Augen. Erst gestern habe ich vier Kilo Rauchwurst vom Supermarkt nach Hause geschleppt, eine Delikatesse mit Parmesan, und dem Tiger zum Fressen überlassen. Das letzte, was ich am Morgen sah, bevor ich zur Arbeit ging, waren drei dicke Würste auf dem Küchentisch, ich habe sogar noch die Pelle abgemacht. Ich griff nach dem Telefon und war bereit zu einer Tirade. Dir werde ich was erzählen, Tiger!
Das Telefon klingelte, der Hörer wurde von der Gabel genommen... und wieder aufgelegt. Ich rief nochmal an, es geschah dasselbe.
Ich glotzte auf das tutende Telefon, während der Hörer in meiner Hand zitterte, dann legte ich auf. Ich holte Luft, wie es ich beim Yoga gelernt hatte: tief durch die Nase ein- und ausatmen, und das zehnmal. Ich schloss die Tür ab und legte mich rücklings auf den Boden, dabei wiederholte ich das Mantra „Der Tiger ist mein Freund“. Ich dachte an einen sonnigen Sandstrand, wie mir mein Therapeut empfohlen hatte. Danach stand ich auf und machte mir in der Küche einen Kamillentee. Das Telegramm des Tigers warf ich weg.
Der Kamillentee half, oder war es eher die Atemübung? Ich vertiefte mich erneut in meine Aufgaben und konnte eine ganze Stunde lang ungestört arbeiten. Ich machte mir einen Wochenplan, bereitete mich auf die Sitzung vor, sogar an den Tiger dachte ich einmal kurz und musste lächeln. Was bist du doch für ein heißblütiger Freund! Ich nahm mir vor, am Abend alles ruhig mit ihm zu besprechen und ihm dann Janosch vorzulesen, denn das mochte der Tiger immer sehr. Wir beide zusammengerollt mit einem Buch auf dem Sofa, mir wurde ganz warm ums Herz. Niemand daddelt auf seinem Telefon herum, niemand sägt in der Garage, nur Liebkosungen und Literatur! Ich war gerade beim Kopieren, als es an der Tür klopfte. Die Sekretärin hatte ein schmerzverzerrtes Gesicht.
VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE T.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Sicherheitshalber las ich mir das Telegramm noch dreimal durch.
VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE
Das beruhigte mich kein bisschen, im Gegenteil, es brachte mich vielmehr auf die Palme. Was für ein Unsinn, ich habe ihn doch trainiert! Monatelang haben wir geübt, alleine in die Wanne zu steigen und sich Brote zu schmieren, Butter aufgestrichen und Wurst geschnitten. Selbst mit dem Kirschenentsteinen und der Spülmaschine kam der Tiger prima zurecht. Mein Gott, das war schon viel mehr als bei Robert! Und jetzt so was.
Ich muss ehrlich sagen, in diesem Moment traute ich dem Tiger nicht mehr und hatte das Gefühl, dass er durchgedreht war. In einer Partnerschaft sind Sie leicht manipulierbar, auch das hatte der Therapeut mir gesagt, sehen Sie sich vor und schützen Sie sich selbst.
Genau das werde ich jetzt tun, nahm ich mir vor, ich scheiße auf das Telegramm. Von wegen verhungern, dass ich nicht lache, mayday... MAYDAY! Die Verkäuferin hatte noch gesagt, dass der Tiger auch Fremdsprachen beherrschte, was sich aber nur in Krisensituationen zeigen würde!
Mir wurde ganz elend zumute. Mein Gott, war das jetzt also eine Krise? War ich nachlässig und egozentrisch gewesen, hatte ich mich zu wenig gekümmert, Alarmsignale ignoriert?
Denn trotz des unbeschwerten Beginns, als sich der Tiger wie ein Tiger benahm, gab es durchaus einige Anzeichen. Ein steigendes Geltungsbedürfnis, Schmollen in der Ecke, Launen und Anflüge von Bockigkeit. Auch gab es hin und wieder einen zerbrochenen Teller und kleine Häufchen auf dem Küchenfußboden. Absichtlich zertrümmerte der Tiger Roberts alten Humpen und machte Flecke in die Bücher, die ich von ihm bekommen hatte. Er belästigte meine Freunde, besonders die Männer, pinkelte meine Freundin an, die eine Hose mit Panthermuster trug, jammerte und knurrte. Wenn ich mich an den Computer setzte, kletterte der Tiger auf den Tisch und drückte ständig die Reset-Taste. Schließlich hatte ich ihn zum Auto geschleppt und war mit ihm zum Psychologen gefahren. Der Therapeut empfahl, feste Grenzen zu setzen und ließ durchschimmern, dass es sich um ein Kindheitstrauma handeln könnte. Der Tiger stritt alles ab und verzog keine Miene. Ich kam mir ganz dämlich vor. Schließlich verließen wir die Praxis doch einvernehmlich, wir hatten eine Vereinbarung getroffen. Eine Zeit ging alles gut. Dann aber fingen die Telegramme an...
Ich zupfte an dem MAYDAY-Telegramm herum und überlegte mit klopfendem Herzen, wie es jetzt weitergehen sollte. Obwohl das Verhalten des Tigers eine Sauerei war, saß mir die Angst im Nacken. Was ist, wenn bei ihm noch andere Dinge nicht in Ordnung sind, schwere Traumata, Seelenqualen? Vielleicht sitzt der Tiger gerade jetzt in Tränen aufgelöst zu Hause, das Kissen ist schon ganz nass, oder er schneidet sich im Badezimmer mit einer Rasierklinge in den Schwanz, während ich hier mit versteinertem Herzen sitze und meine Schublade voller Hilferufe des Tigers ist? Nein, das konnte ich nicht zulassen. Ich stand auf.
Ich bat die Sekretärin, die Sitzung abzusagen und versprach ihr anzurufen, sobald ich zuhause war. Auf dem Parkplatz fing ich an zu laufen, die Schlüssel und das Tictac- Döschen klapperten in meiner Tasche. Mit achtzig Sachen raste ich durch die Stadt, wechselte ständig die Spur und besorgte mir im Supermarkt noch das Lieblingsfleisch des Tigers. Beschäftigung half, als ich die Treppe raufrannte, war ich schon voll gespannter Erwartung. Gleich werde ich den Tiger in den Arm nehmen, dann reden wir miteinander, und hinterher essen wir Pastete. Alles wird gut! Ich wollte den Schlüssel ins Schloss stecken und erstarrte. Das Schloss war kaputt, die Tür schwang auf.
Ich ließ die Einkaufstasche auf den Boden fallen und sackte gegen den Türrahmen. Die ganze Wohnung war auf den Kopf gestellt, auf dem Boden lagen zwischen Tapetenfetzen und Vasensplittern verstreut Bücher herum. Die Gardinen waren in Streifen gerissen, im Sofa war ein Loch, und die Wand war mit großen, schwarzen Tigerspuren übersät. Mitten in dem Chaos lag überall zerknülltes Papier, mein ganzer Vorrat an Schreibpapier war aufgebraucht. Der Tiger war nirgendwo zu sehen.
Ich betrat schweigend die Küche. Auch hier kein Tiger. Stattdessen fand ich auf dem Tisch einen verschmierten Zettel mit krummen Buchstaben.
ÄTSCH TOWARISCHTSCH BIN MIT BERNHARD WEG BESUCH UNS MAL LASS UNS FREUNDE BLEIBEN
Darunter war in einer ordentlichen Handschrift hinzugefügt:
Wir haben ein Telegramm bekommen und den Tiger zur Beruhigung mitgenommen. Rufen Sie im Zoo an. Bernhard G. (Tel. 658 1124)
PS. Ihr Tiger spricht Russisch! Ein beispielloser Fall!
Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich setzte mich auf den Boden und weinte ein wenig. Dann fing ich an, die Wohnung aufzuräumen.
*
Bis heute wohnt der Tiger bei Bernhard. In den ersten Monaten war es schwierig, aber ich bekam ärztliche Hilfe. Jetzt arbeite ich halbtags und habe mehr Energie, meine Abende sind frei. Angerufen habe ich noch nicht, dazu muss ich noch Mut sammeln. Anfangs jagte ich alle Partnerschaftsanwärter fort, aber jetzt habe ich einen. Wir gehen gemeinsam ins Kino und die Kneipe, er kann selbst kochen und liest gerne, ich glaube, er stellt keine Gefahr dar. Gestern schlug er vor, nächsten Samstag in den Zoo zu gehen, aber ich weiß nicht recht, ein bisschen Angst habe ich schon. Der Tiger hat allerdings vor einer Woche ein Telegramm mit vielen Grüßen geschickt und mitgeteilt, dass er ordentlich zu Essen bekommt. Fremdsprachige Wörter verwendete er nicht. Unterschrieben war mit T.
Natürlich blutet mir manchmal das Herz wegen der Sache, aber was soll man machen. Man lernt aus seinen Fehlern! Ich setze die Therapie noch ein paar Wochen fort, dann schauen wir mal, wie es weitergeht.
Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt
Eestikeelne novell ilmus algselt Loomingu numbris 12/2017 ja seda saab lugeda siit.
Published in German in Neue Nordische Novellen VII, Heiner Labonde 2021