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23. september 2022
Der Rückfall (Neue Nordische Novellen VII, 2021)
Ich stieß die Ladentür auf. Seit Roberts Brief auf dem Küchentisch war ein ganzes Jahr vergangen, jetzt war ich bereit für einen Neuanfang. Ich wollte einen verlässlichen Freund, der mir zur Seite stünde, aber gleichzeitig unbekümmert und selbstständig sein musste. Die Verkäuferin zögerte keine Sekunde. Sie wusste sofort, was ich brauchte.
„Exotisch und weich,“ sagte sie. „Vernünftig und unabhängig, ausdrucksstark, lässt sich gerne streicheln und bewacht das Haus.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus, ja, er war wirklich weich. Ich nahm ihn sofort mit.
Aber das andere, das erwähnte die Verkäuferin mit keinem Sterbenswörtchen.
KOMM SOFORT, schrieb der Tiger. HUNGER. STIMMUNG ÄUSSERST MISERABEL. T.
Ich knüllte das Telegramm zusammen und seufzte. Die Forderungen wurden immer dreister. Ich will es ja gar nicht verschweigen – der Tiger ließ sich wirklich gerne streicheln und bewachte mein Haus, aber dazu dreimal täglich ein dringendes Telegramm! Anfangs freute ich mich noch über eine Nachricht von ihm – wer kriegt nicht gerne Post von zu Hause! Aber je länger es dauerte, desto anspruchsvoller wurde sein Ton, und schließlich stieg er auf die Telegramme um. Die Lage verschlimmerte sich rapide, bald verstrich kein Tag mehr ohne eine Nachricht vom Tiger. Mit Selbstständigkeit hatte das nichts zu tun.
Im Frühjahr war die Schublade auf der Arbeit voll mit Telegrammen vom Tiger, und alle meine Haushaltstage waren aufgebraucht. Im April war ich eine ganze Woche zu Hause, weil der Tiger es so wollte. Er baute sich eine Hütte vor der Tür und saß dort tagelang, nicht einmal für sein Geschäft entfernte er sich. Erst als der Kühlschrank leer war, ließ er mich auf den Markt, aber nur in die Fleischabteilung. Und er gab mir einen Einkaufszettel mit: Wild und Pastete. Salat durfte ich im Kühlschrank nicht aufbewahren, er sagte, das sei was für Hasen. Abends sorgte er dafür, dass ich zeitig ins Bett ging, und zog mit aufgestelltem Schwanz seine Kreise um mein Bett. Die Lage ähnelte gefährlich meiner Vergangenheit. War der Tiger am Ende ein Bekannter von Robert? Aber egal, das führt zu weit, lassen wir das.
Sprechen wir lieber über die Arbeit.
Was ich sagen will, ist, dass ich mich ja nicht ständig mitten am Tag davonmachen konnte. Jede Woche der gleiche Ärger. Alle meine Kollegen wussten es, sogar der Wachmann, sie waren teilnahmsvoll und mitfühlend. Vermutlich erinnerten sie sich an die Vergangenheit und machten sich Sorgen, dass ich den gleichen Fehler noch einmal machen würde. Ich widersprach ihnen aber, ich wollte nicht bemitleidet werden und sagte, dass ich diesmal einen Selbstständigen habe. Aber am Ende wurden die Nachrichten vom Tiger doch so erdrückend, dass ich mich schweren Herzens auf den Nachhauseweg machte. Monatelang ging das so. Mein ganzer Jahresurlaub war schon für den Tiger draufgegangen. Und so fasste ich den Entschluss, dass es jetzt reichte, das Maß war voll. Ich redete mit dem Tiger, ich hatte ein Gespräch mit dem Therapeuten, alles
schien klar. Wir legten Grenzen fest und was wir voneinander erwarten konnten, mit den Telegrammen musste jetzt Schluss sein. Aber schon am nächsten Tag kam das Telegramm, das ich bereits erwähnt habe:
KOMM SOFORT. HUNGER. STIMMUNG ÄUSSERST MISERABEL. T.
Ich warf den Wisch in den Papierkorb und dachte, denkste, Tiger, diesmal nicht. Für den Abend legte ich mir alles im Kopf zurecht: Die Deadline des Projekts, Sitzung, Protokoll schreiben, ich konnte einfach nicht eher kommen ... Ich probierte es sogar vor dem Spiegel aus, damit es natürlich rüberkam. Dann setzte ich mich wieder an den Schreibtisch, sah die Berichte durch und ging mit Kollegen mittagessen. Ich fühlte mich stark. Aber als ich ins Büro zurückkam, winkte mich die Sekretärin mitfühlend zu sich. Auf der Tischkante lag ein Telegramm. Ich begleitete sie mit den Augen zur Tür und faltete das Papier auf.
KÜCHE LEER DREIMAL KONTROLLIERT BITTE BEEILUNG. T.
Ich spürte ein Kneifen im Bauch, und mir wurde schwarz vor Augen. Erst gestern habe ich vier Kilo Rauchwurst vom Supermarkt nach Hause geschleppt, eine Delikatesse mit Parmesan, und dem Tiger zum Fressen überlassen. Das letzte, was ich am Morgen sah, bevor ich zur Arbeit ging, waren drei dicke Würste auf dem Küchentisch, ich habe sogar noch die Pelle abgemacht. Ich griff nach dem Telefon und war bereit zu einer Tirade. Dir werde ich was erzählen, Tiger!
Das Telefon klingelte, der Hörer wurde von der Gabel genommen... und wieder aufgelegt. Ich rief nochmal an, es geschah dasselbe.
Ich glotzte auf das tutende Telefon, während der Hörer in meiner Hand zitterte, dann legte ich auf. Ich holte Luft, wie es ich beim Yoga gelernt hatte: tief durch die Nase ein- und ausatmen, und das zehnmal. Ich schloss die Tür ab und legte mich rücklings auf den Boden, dabei wiederholte ich das Mantra „Der Tiger ist mein Freund“. Ich dachte an einen sonnigen Sandstrand, wie mir mein Therapeut empfohlen hatte. Danach stand ich auf und machte mir in der Küche einen Kamillentee. Das Telegramm des Tigers warf ich weg.
Der Kamillentee half, oder war es eher die Atemübung? Ich vertiefte mich erneut in meine Aufgaben und konnte eine ganze Stunde lang ungestört arbeiten. Ich machte mir einen Wochenplan, bereitete mich auf die Sitzung vor, sogar an den Tiger dachte ich einmal kurz und musste lächeln. Was bist du doch für ein heißblütiger Freund! Ich nahm mir vor, am Abend alles ruhig mit ihm zu besprechen und ihm dann Janosch vorzulesen, denn das mochte der Tiger immer sehr. Wir beide zusammengerollt mit einem Buch auf dem Sofa, mir wurde ganz warm ums Herz. Niemand daddelt auf seinem Telefon herum, niemand sägt in der Garage, nur Liebkosungen und Literatur! Ich war gerade beim Kopieren, als es an der Tür klopfte. Die Sekretärin hatte ein schmerzverzerrtes Gesicht.
VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE T.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Sicherheitshalber las ich mir das Telegramm noch dreimal durch.
VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE
Das beruhigte mich kein bisschen, im Gegenteil, es brachte mich vielmehr auf die Palme. Was für ein Unsinn, ich habe ihn doch trainiert! Monatelang haben wir geübt, alleine in die Wanne zu steigen und sich Brote zu schmieren, Butter aufgestrichen und Wurst geschnitten. Selbst mit dem Kirschenentsteinen und der Spülmaschine kam der Tiger prima zurecht. Mein Gott, das war schon viel mehr als bei Robert! Und jetzt so was.
Ich muss ehrlich sagen, in diesem Moment traute ich dem Tiger nicht mehr und hatte das Gefühl, dass er durchgedreht war. In einer Partnerschaft sind Sie leicht manipulierbar, auch das hatte der Therapeut mir gesagt, sehen Sie sich vor und schützen Sie sich selbst.
Genau das werde ich jetzt tun, nahm ich mir vor, ich scheiße auf das Telegramm. Von wegen verhungern, dass ich nicht lache, mayday... MAYDAY! Die Verkäuferin hatte noch gesagt, dass der Tiger auch Fremdsprachen beherrschte, was sich aber nur in Krisensituationen zeigen würde!
Mir wurde ganz elend zumute. Mein Gott, war das jetzt also eine Krise? War ich nachlässig und egozentrisch gewesen, hatte ich mich zu wenig gekümmert, Alarmsignale ignoriert?
Denn trotz des unbeschwerten Beginns, als sich der Tiger wie ein Tiger benahm, gab es durchaus einige Anzeichen. Ein steigendes Geltungsbedürfnis, Schmollen in der Ecke, Launen und Anflüge von Bockigkeit. Auch gab es hin und wieder einen zerbrochenen Teller und kleine Häufchen auf dem Küchenfußboden. Absichtlich zertrümmerte der Tiger Roberts alten Humpen und machte Flecke in die Bücher, die ich von ihm bekommen hatte. Er belästigte meine Freunde, besonders die Männer, pinkelte meine Freundin an, die eine Hose mit Panthermuster trug, jammerte und knurrte. Wenn ich mich an den Computer setzte, kletterte der Tiger auf den Tisch und drückte ständig die Reset-Taste. Schließlich hatte ich ihn zum Auto geschleppt und war mit ihm zum Psychologen gefahren. Der Therapeut empfahl, feste Grenzen zu setzen und ließ durchschimmern, dass es sich um ein Kindheitstrauma handeln könnte. Der Tiger stritt alles ab und verzog keine Miene. Ich kam mir ganz dämlich vor. Schließlich verließen wir die Praxis doch einvernehmlich, wir hatten eine Vereinbarung getroffen. Eine Zeit ging alles gut. Dann aber fingen die Telegramme an...
Ich zupfte an dem MAYDAY-Telegramm herum und überlegte mit klopfendem Herzen, wie es jetzt weitergehen sollte. Obwohl das Verhalten des Tigers eine Sauerei war, saß mir die Angst im Nacken. Was ist, wenn bei ihm noch andere Dinge nicht in Ordnung sind, schwere Traumata, Seelenqualen? Vielleicht sitzt der Tiger gerade jetzt in Tränen aufgelöst zu Hause, das Kissen ist schon ganz nass, oder er schneidet sich im Badezimmer mit einer Rasierklinge in den Schwanz, während ich hier mit versteinertem Herzen sitze und meine Schublade voller Hilferufe des Tigers ist? Nein, das konnte ich nicht zulassen. Ich stand auf.
Ich bat die Sekretärin, die Sitzung abzusagen und versprach ihr anzurufen, sobald ich zuhause war. Auf dem Parkplatz fing ich an zu laufen, die Schlüssel und das Tictac- Döschen klapperten in meiner Tasche. Mit achtzig Sachen raste ich durch die Stadt, wechselte ständig die Spur und besorgte mir im Supermarkt noch das Lieblingsfleisch des Tigers. Beschäftigung half, als ich die Treppe raufrannte, war ich schon voll gespannter Erwartung. Gleich werde ich den Tiger in den Arm nehmen, dann reden wir miteinander, und hinterher essen wir Pastete. Alles wird gut! Ich wollte den Schlüssel ins Schloss stecken und erstarrte. Das Schloss war kaputt, die Tür schwang auf.
Ich ließ die Einkaufstasche auf den Boden fallen und sackte gegen den Türrahmen. Die ganze Wohnung war auf den Kopf gestellt, auf dem Boden lagen zwischen Tapetenfetzen und Vasensplittern verstreut Bücher herum. Die Gardinen waren in Streifen gerissen, im Sofa war ein Loch, und die Wand war mit großen, schwarzen Tigerspuren übersät. Mitten in dem Chaos lag überall zerknülltes Papier, mein ganzer Vorrat an Schreibpapier war aufgebraucht. Der Tiger war nirgendwo zu sehen.
Ich betrat schweigend die Küche. Auch hier kein Tiger. Stattdessen fand ich auf dem Tisch einen verschmierten Zettel mit krummen Buchstaben.
ÄTSCH TOWARISCHTSCH BIN MIT BERNHARD WEG BESUCH UNS MAL LASS UNS FREUNDE BLEIBEN
Darunter war in einer ordentlichen Handschrift hinzugefügt:
Wir haben ein Telegramm bekommen und den Tiger zur Beruhigung mitgenommen. Rufen Sie im Zoo an. Bernhard G. (Tel. 658 1124)
PS. Ihr Tiger spricht Russisch! Ein beispielloser Fall!
Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich setzte mich auf den Boden und weinte ein wenig. Dann fing ich an, die Wohnung aufzuräumen.
*
Bis heute wohnt der Tiger bei Bernhard. In den ersten Monaten war es schwierig, aber ich bekam ärztliche Hilfe. Jetzt arbeite ich halbtags und habe mehr Energie, meine Abende sind frei. Angerufen habe ich noch nicht, dazu muss ich noch Mut sammeln. Anfangs jagte ich alle Partnerschaftsanwärter fort, aber jetzt habe ich einen. Wir gehen gemeinsam ins Kino und die Kneipe, er kann selbst kochen und liest gerne, ich glaube, er stellt keine Gefahr dar. Gestern schlug er vor, nächsten Samstag in den Zoo zu gehen, aber ich weiß nicht recht, ein bisschen Angst habe ich schon. Der Tiger hat allerdings vor einer Woche ein Telegramm mit vielen Grüßen geschickt und mitgeteilt, dass er ordentlich zu Essen bekommt. Fremdsprachige Wörter verwendete er nicht. Unterschrieben war mit T.
Natürlich blutet mir manchmal das Herz wegen der Sache, aber was soll man machen. Man lernt aus seinen Fehlern! Ich setze die Therapie noch ein paar Wochen fort, dann schauen wir mal, wie es weitergeht.
Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt
Eestikeelne novell ilmus algselt Loomingu numbris 12/2017 ja seda saab lugeda siit.
Published in German in Neue Nordische Novellen VII, Heiner Labonde 2021
22. september 2022
Alles auf Anfang (Neue Nordische Novellen VII, 2021)
Schlussakkord. Ich atmete erleichtert auf und nahm vorsichtig den Fuß vom Pedal. Der Kommissionsvorsitzende bedankte sich, ich erhob mich und räumte die Noten vom Pult. Der leere Saal schallte unangenehm. Absätze auf Parkett. Wir telefonieren später, gab mir meine Lehrerin über die Schulter zu verstehen. Ich nickte und ging hinaus.
Ich lehnte mich gegen die kalte Wand des Korridors und ließ die gesamte Prüfung mehrmals Revue passieren. Die Arpeggios waren nicht aus der Form, sie liefen plätschernd, das Tempo war okay, die Ausgestaltung saß. Chopins Phantasien forderten Empfindsamkeit, man durfte jedoch nicht ins Träumen kommen. Ich hatte mich wochenlang geplagt, die richtige Tonalität gesucht, das Gleichgewicht. Jetzt hieß es nur noch abwarten und auf das Beste hoffen: auf den Sieg und das Stipendium.
Schon als Kind war ich eine kleine Träumerin gewesen, mir mangelte es nie an Phantasie. Ich sehnte mich nach einem großen Bruder und einer Krapfenmaschine, einer Barbiepuppe und einem Kätzchen, nach Schuhen mit Klettverschlüssen; später auch nach einer Brieffreundin in Schweden, einem Klavier, einem eigenen Zimmer. Und schließlich: nach dem Sieg im Wettbewerb, dem Auslandsstipendium und selbstverständlich einem Verehrer. Der sollte älter sein als ich und nett, und kultiviert … insgeheim hoffte ich, dass er Semiotiker wäre, mit einem Schal. Und darum traute ich bei der Abschlussfeier kaum meinen Augen – dort saß er und war so vollkommen! Genau, wie ich ihn mir erträumt hatte: groß, zerzauste Haare, mit Füllfederhalter und Aktentasche. Selbstbewusst, aber einfühlsam, belesen, diskutierte mit den Dozenten, lernte fleißig. Er war noch nicht immatrikuliert, aber was bedeutete das schon, ich war ihm auch so auf der Stelle verfallen.
Ich spionierte das ganze Semester herum, um herauszufinden, was er liest, und machte mir heimlich Notizen. Hemingway kannte ich natürlich, aber dieser russische Eisenbahnroman, wo ständig getrunken wurde, der war mir neu. Die Klassenkameraden, die ihn wie Jünger umgaben, lauschten ihm und erklärten bald allen, dass sie im Sommer nach Pamplona fahren wollten. Insgesamt umgab ihn die Aura eines Anführers, er war nach Genialität ausgerichtet. Er sagte nicht beziehungsweise, sondern respektive, und dann noch ergo, das kam aus dem Lateinischen. Bei Feiern war er ein geschätzter Redner, er hatte eine laute Stimme und wusste sich Ironie zu bedienen. Ich widmete ihm alle Phantasien Chopins, doch das war nur die Spitze des Eisbergs. Obendrein las ich diesen Roman über den Stierlauf, kaufte Platten von Bob Dylan, sah mir Tarantino-Filme im Kino an. Mit großer Mühe übersetzte ich den Monolog des wütenden Schwarzen, der so wild schimpfte! Nach dem Unterricht versteckte ich mich hinter der Schule, um dann wie von ungefähr aufzutauchen und mit ihm in den Trolleybus zu steigen. Ein paar schamlose Klassenkameradinnen stellten ihm ebenfalls nach, ich vertrieb sie, so gut ich konnte. Ich musste ständig auf der Lauer sein, die verbliebene Zeit gehörte dem Träumen. Ein langer Schal und die Aktentasche, darin die Bücher… mit so einem Jungen konnte man wohl im Schneetreiben spazieren gehen.
Die Zeit verging, und die Schulaufgaben blieben auf der Strecke, das Klavierspielen ebenso, meine Etüden wurden wackelig. Die Lehrerin schüttelte den Kopf, sprach es aber nicht direkt aus, verwies nur entfernt auf den Dezember. Zu meiner eigenen Überraschung merkte ich, dass der Wettbewerb mich kalt ließ, abends lümmelte ich auf dem Bett, mit Kopfhörern auf den Ohren. Vor meinem inneren Auge inszenierte ich dichterische Szenen, bei Schneefall schlenderten wir unter lauschig leuchtenden Laternen durch die Altstadt. Mein Liebster trug einen langen Mantel, er zog mich unter seinen Saum und hielt liebevoll meine Hand im Fäustling. Dann kehrten wir in ein spärlich beleuchtetes Café ein, auf den alten Tischen standen Kerzenhalter, das flackernde Licht erleuchtete mein Gesicht. Im Hintergrund sang Leonard Cohen mit seiner klangvollen Stimme „Take this waltz, I’m your man“. Gespräche führten wir keine in meinen Träumereien, Umarmungen gab es dafür reichlich.
In einer ausgedehnten Traumphase passierte es plötzlich, da war es bereits November. Wir standen im Epizentrum der außerschulischen Lebensplanung – der vergitterten Garderobe – und zogen uns die Straßenschuhe an. Ich kramte gerade nach etwas in meiner Tasche, als er sich schwungvoll gegen die Tür lehnte und mich ansah. Die Stäbe der Gitterwand bebten, ich wendete meinen Kopf. Hör mal, was, wenn wir Freitagabend, was meinst du, in der Altstadt, einen Drink oder zwei?
Die Zeit blieb stehen. Dreißig Paar Turnschuhe in Plastiktüten hingen an ihren Haken, die Putzfrau raschelte mit ihren Lappen. Aus der Ferne hörte man jemanden in der Sporthalle mit einem Ball dribbeln, die Sonne schien, aus der Kantine wehte der Geruch von Kohl herüber. Freitagabend, er und ich, in der Altstadt! Ein Drink oder zwei! Ich fühlte mich wie ein Glückspilz. Mein Herz pochte, alles war wie im Film. Ich krallte mich krampfhaft an den Träger meiner Tasche. Machen wir, nickte ich, lass uns nachher reden, ich habe jetzt meine Klavierstunde. Ich griff nach meinen Noten und ging hinaus. Hinter der Schule stützte ich mich an die Wand. So spürte ich, wie sich ein drittes Auge öffnete, mit dem ich bald ein vollwertiges Leben erfassen sollte, das am Freitag um achtzehn Uhr begann.
Tag für Tag wurde ich nur noch nervöser, ich war vorher noch nie mit so einer Sache in Berührung gekommen. Anstatt mich mit Jungen zu beschäftigen, verbrachte ich meine Freizeit mit Üben, in die Altstadt ging ich nur für Konzerte. Wohin er mich wohl ausführen wollte? Würde man uns hineinlassen? Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er mich nicht um Rat fragen würde. Ebenso wenig wusste ich, was ein Drink oder zwei bedeuten sollte. Bier und Kaffee trank ich nicht, Wein verkaufte man mir nicht. Könnte ein Drink oder zwei auch Kakao sein? Ich hatte dutzende Fragen. Mein Unwissen mischte sich mit Adrenalin, Nervenkitzel mit Wunschvorstellungen. Ich wusste nicht mehr, ob ich fröhlich oder ängstlich war, ob ich den Freitag mit Spannung erwartete oder nur den Gedanken daran.
Die Uhr jedoch tickte unaufhaltsam, und schließlich war es soweit. Donnerstagabend bildete sich eine dicke Schneedecke, und ich bekam Durchfall. Schon in der Nacht brachen winterlich-frostige Temperaturen ein, sie sanken mit jeder Stunde. Als ich am Freitag in die Stadt fuhr, zog ein Schneegestöber auf, die Menschen froren an den Haltestellen, die Nasen waren in den Kragen vergraben. Ich war schrecklich nervös, ging unterwegs auf Toilette, den Player mit Leonard hatte ich zuhause vergessen. Beim Busfahrer lief russischsprachiges Radio, die Fenster waren beschlagen, der Trolleybus knirschte. Zwischendurch sprang das Geweih aus der Leitung, aber nichtsdestotrotz erreichte er sein Ziel. Hinter der Ecke des Rathauses kontrollierte ich noch flink den Lippenstift, der winzige Spiegel beschlug.
Er wartete in der Mitte des Platzes auf mich, in einer riesengroßen Wattejacke wie ein Michelin-Männchen, und wärmte sich die Hände. Während ich auf ihn zuging, musterte ich ihn. Auf seiner Mütze stand KARHU, vom Schal war keine Spur, auch von der Aktentasche nicht. Wir umarmten uns verlegen, und er führte mich in einen Pub, der im Grunde genommen nur Schüler und Finnen anzog.
Wir setzten uns in eine dunkle Ecke, auf dem Tisch brannte eine Kerze, ich schob meinen Ranzen unter den Stuhl. Die Fäustlinge stopfte ich in meinen Jackenärmel und schielte dabei heimlich zu ihm und seiner leuchtend roten Nase. Das rote Fußballshirt unterstrich seine hellen Wimpern. Meine eigene rote Nase lag verborgen unter der Abdeckcreme meiner Mutter.
„Was hättest du gerne?“
Ich spähte zum Nachbartisch und wusste nicht, was ich wählen sollte. An Geburtstagen hatte ich selbstverständlich schon einmal Wein probiert, aber ich zog stets Pflaumensaft vor. Birnencider? Und was waren Cuba Libre und Sambuca? Ich fischte nach der Getränkekarte und biss mir auf die Lippe. Mein Gefährte rief zur Bar: „Garçon, ein Originaal!“ Ein schnurrbärtiger Mann kam mit einem Bier. Gott im Himmel, ich weiß nicht, einen Kakao vielleicht? Der Mann schmunzelte und verschwand hinter der Theke. Ich kratzte etwas Wachs von der Kerze und errötete.
Je weiter die Zeit fortschritt, desto unwohler wurde mir. Ich nippte an dem Getränk, drehte den Löffel hin und her, mir war flau zumute. Er war auch aufgeregt, spülte sein Bier hinunter, über seiner dünnen, roten Oberlippe kräuselte sich der Schaum. Die kleinen dünnen Haare hatte ich dort noch nie bemerkt. Dann fing er ein Gespräch an, laut, die Sommis am Nebentisch blickten herüber. Wir durchquerten im Schnelllauf die Themen Tallinn vs. Tartu, Saku vs. A le Coq, Hemingway, Kerouac, Pulp Fiction, Fight Club, Monty Python, Beavis & Butthead, Roskilde, Sziget. Nacharbeit, der Geschichtslehrer, Eurovision, Tarantinos neuster Film. Dann trat Stille ein. Er stand auf und holte sich ein neues Bier. Sein Gang schien irgendwie federnd. Ich stahl mich zur Toilette und färbte meine Lippen, die letzte Schicht war am Tassenrand geblieben.
Als ich zurückkam, drehte er sein Bierglas in der Hand, den Blick am Fernseher, dort wurde Fußball gespielt. Wir sprachen ein bisschen über die englische Liga und davon, wie Sport den Krieg fernhält. Er hatte in diesem Bereich umfassende Kenntnisse, aber dann gingen ihm wohl auch diese aus. Ich griff nach einem Stück Zucker und wärmte die Hände an der Tasse. Spannung lag in der Luft, was jetzt wohl käme. In meinem Inneren trat eine ekelhafte Vorahnung an den Platz von Romantik und Nervenkitzel, die Stille nahm zu, die Zeit um uns dehnte sich.
Mein Gefährte zappelte auf seinem Stuhl hin und her und beugte sich nach vorne, sein Adamsapfel zuckte. Ich schluckte. Dann schob er die Kerze zur Seite, beugte sich auf den Tisch, die rechte Hand vorgestreckt. Ich senkte meinen Blick ruckartig, in meinem Bauch stach es wie vor einer Prüfung. Ich spielte mit meiner Tasse, mein Herz pochte. Die Haut an seinen Fingerknöcheln war rau und rot… und dann rutschte die Hand langsam näher.
Ich erstarrte auf meinem Sitz und stierte auf sein Handgelenk, das mich an eine fette Kreuzotter erinnerte. Sie kroch langsam aber bestimmt in meine Richtung, ich saß gelähmt da wie eine verängstigte Maus. Die Hand hielt nicht an, sie kam immer näher, bereit zuzugreifen, zu verschlingen … schließlich erwachte ich aus der Trance, ich zog meine Handfläche vom Tisch und stieß dabei plump gegen die Kerze. Das flüssige Wachs löschte die Flamme, doch die Kerze blieb aufrecht stehen. Auch seine Hand zog sich zurück.
„Bestellen wir noch etwas?“
Unbeholfen verkrampfte ich meine Hand unter den Sitz, sein ManU-Shirt flammte vor meinen Augen auf. Ich bemerkte abscheuliche kleine Pusteln an seinem Hals. Der Typ meiner Träume hatte keine Pusteln. Und generell war alles anders, auch die Haare auf seinen Armen und der unsichere Blick. Ich wollte mit ihm nicht im Schneefall spazieren gehen gehen, vom Händchenhalten ganz zu schweigen. Ich wollte in mein Zimmer, an mein Klavier, zu den Büchern, wo es nicht so einen Ochsen gäbe; ich wollte mit meinen Eltern die Nachrichten schauen und Uncle Ben's mit Ananas essen.
Die Uhr hatte die Zehn erreicht, da gingen wir endlich. Schnell mit dem Taxi nach Hause, dachte ich nur. Das Universum hatte jedoch andere, bösartigere Pläne. Wir traten nach draußen, der Wind schlug uns ins Gesicht, das Thermometer am Rathaus zeigte –20. Der Taxistand war leer. Die gelben Wagen fuhren an uns vorbei. Mit den Piraten – den illegalen – durfte ich nicht fahren. Die Laternen flimmerten. Also joggten wir, unsere Rücken vor Kälte gekrümmt, am Kiosk vorbei bis zur Haltestelle. Die Stadt war wie ausgestorben, nur einzelne Gestalten hier und da.
Ich spürte, wie meine Zehen in den Stiefeln vor Kälte stachen, die Autos rauschten vorbei, auf dem Weg türmten sich überall hohe Schneewehen auf. Der Trolleybus kam rasch, er hielt mit einem Ächzen an, das helle Licht stach in den Augen. Bald zu Hause, dachte ich erleichtert, aber dann trat er näher, und ich begriff erschrocken, dass der Abend noch lange nicht vorbei war. Er wohnte auf der anderen Straßenseite von uns, und plötzlich wusste ich genau, was mich erwartete. Er würde mich nach Hause bringen und dann, vor der Haustür, auf der Treppe... Die Vorahnung ließ meine Beine schwach werden.
Der Trolleybus schaukelte und krachte, und die Haltestellen flogen an uns vorbei. Ich hatte regelrechte Panik. Ich wollte nicht, dass mein erster Kuss in der gelben Dämmerung eines Betonplattenbaus mit meinem beflaumten Klassenkameraden stattfinden würde, schrecklich, schrecklich, was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Die Türen öffneten sich, und auf die unterste Stufe fiel jede Menge feiner Schnee. Und dann sah ich meine Gelegenheit.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell. Und da war er wieder.
Wir stapften weiter. Der Wind wirbelte zwischen den Plattenbauten hindurch. Drei Haltestellen, ich zählte sie hinunter. Die Zeit tickte gnadenlos, die Straßenlaternen schienen gedimmt. Es gab elektrische Dreiecke an den Fenstern, in einiger Entfernung erklang der nächste Trolleybus. Die kahlen Bäume warfen ihre Schatten in den Schnee, die Rohre der Geräte auf dem Spielplatz leuchteten. Was ist, wenn ich sie anlecke, dachte ich verzweifelt, um es hinauszuzögern...
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Die Lampe über den Stufen flackerte. Er blieb stehen und zog die Handschuhe aus. Ich schaute mit klopfendem Herzen nach unten und wusste, dass es kommen würde. „So ein schöner Abend! Du bist ein besonderes Mädchen. Könnte ich...?"
Kannst du nicht!, seufzte ich innerlich.
Die rote Nase kam näher, das KARHU-Etikett kam näher. Ich roch Deo und Bier. Es gab keinen Pfosten mehr, keinen Rückzugsort. Die Zeit war abgelaufen. Ich will zurück, schaffte ich noch zu denken. Auch das noch!
Die Pfosten waren zurück, der Zehnte, der Neunte, die Panik und die Schneewehen. Der Wind trug uns fort, und wir schwebten an die Haltestelle, in den Trolleybus. Der schaukelte rückwärts in die Stadt, die Zeit trieb uns in die Kneipe, zum Tisch ganz hinten. Und dann waren wir wieder in der Schulgarderobe.
Hinter den staubigen Fenstern leuchteten Bäume, es hatte noch nicht zu schneien begonnen. Aus der Turnhalle hörte man einen Ball gegen die Wand prallen. Hör zu. Was, wenn wir Freitagabend ... einen Drink oder zwei?
*
Ich fuhr zusammen. Die Tür zum Flur öffnete sich, meine Lehrerin stand vor mir. Sie winkte mich zu sich und schloss die Tür. Komm, lass uns kurz reden.
echnisch war alles einwandfrei, sie waren mit der Etüde und dem langen Stück zufrieden. Beherrscht das Instrument, hatte jemand notiert, überzeugend und sicher, Talent ist da. Nur diese Phantasie, schwach und halbherzig, wenig nuanciert, dazu flach, verträumt. Chopin dagegen - mehr Mut und Tempo! Lass sie nochmal spielen, mit Hingabe. Immerhin steht ein Stipendium auf dem Spiel. Einverstanden?
Ich senkte den Blick, meine Kehle schnürte zu. Auch das noch, dachte ich. Mama muss heute Krapfen machen, die mag ich am liebsten.
Ich lehnte mich gegen die kalte Wand des Korridors und ließ die gesamte Prüfung mehrmals Revue passieren. Die Arpeggios waren nicht aus der Form, sie liefen plätschernd, das Tempo war okay, die Ausgestaltung saß. Chopins Phantasien forderten Empfindsamkeit, man durfte jedoch nicht ins Träumen kommen. Ich hatte mich wochenlang geplagt, die richtige Tonalität gesucht, das Gleichgewicht. Jetzt hieß es nur noch abwarten und auf das Beste hoffen: auf den Sieg und das Stipendium.
Schon als Kind war ich eine kleine Träumerin gewesen, mir mangelte es nie an Phantasie. Ich sehnte mich nach einem großen Bruder und einer Krapfenmaschine, einer Barbiepuppe und einem Kätzchen, nach Schuhen mit Klettverschlüssen; später auch nach einer Brieffreundin in Schweden, einem Klavier, einem eigenen Zimmer. Und schließlich: nach dem Sieg im Wettbewerb, dem Auslandsstipendium und selbstverständlich einem Verehrer. Der sollte älter sein als ich und nett, und kultiviert … insgeheim hoffte ich, dass er Semiotiker wäre, mit einem Schal. Und darum traute ich bei der Abschlussfeier kaum meinen Augen – dort saß er und war so vollkommen! Genau, wie ich ihn mir erträumt hatte: groß, zerzauste Haare, mit Füllfederhalter und Aktentasche. Selbstbewusst, aber einfühlsam, belesen, diskutierte mit den Dozenten, lernte fleißig. Er war noch nicht immatrikuliert, aber was bedeutete das schon, ich war ihm auch so auf der Stelle verfallen.
Ich spionierte das ganze Semester herum, um herauszufinden, was er liest, und machte mir heimlich Notizen. Hemingway kannte ich natürlich, aber dieser russische Eisenbahnroman, wo ständig getrunken wurde, der war mir neu. Die Klassenkameraden, die ihn wie Jünger umgaben, lauschten ihm und erklärten bald allen, dass sie im Sommer nach Pamplona fahren wollten. Insgesamt umgab ihn die Aura eines Anführers, er war nach Genialität ausgerichtet. Er sagte nicht beziehungsweise, sondern respektive, und dann noch ergo, das kam aus dem Lateinischen. Bei Feiern war er ein geschätzter Redner, er hatte eine laute Stimme und wusste sich Ironie zu bedienen. Ich widmete ihm alle Phantasien Chopins, doch das war nur die Spitze des Eisbergs. Obendrein las ich diesen Roman über den Stierlauf, kaufte Platten von Bob Dylan, sah mir Tarantino-Filme im Kino an. Mit großer Mühe übersetzte ich den Monolog des wütenden Schwarzen, der so wild schimpfte! Nach dem Unterricht versteckte ich mich hinter der Schule, um dann wie von ungefähr aufzutauchen und mit ihm in den Trolleybus zu steigen. Ein paar schamlose Klassenkameradinnen stellten ihm ebenfalls nach, ich vertrieb sie, so gut ich konnte. Ich musste ständig auf der Lauer sein, die verbliebene Zeit gehörte dem Träumen. Ein langer Schal und die Aktentasche, darin die Bücher… mit so einem Jungen konnte man wohl im Schneetreiben spazieren gehen.
Die Zeit verging, und die Schulaufgaben blieben auf der Strecke, das Klavierspielen ebenso, meine Etüden wurden wackelig. Die Lehrerin schüttelte den Kopf, sprach es aber nicht direkt aus, verwies nur entfernt auf den Dezember. Zu meiner eigenen Überraschung merkte ich, dass der Wettbewerb mich kalt ließ, abends lümmelte ich auf dem Bett, mit Kopfhörern auf den Ohren. Vor meinem inneren Auge inszenierte ich dichterische Szenen, bei Schneefall schlenderten wir unter lauschig leuchtenden Laternen durch die Altstadt. Mein Liebster trug einen langen Mantel, er zog mich unter seinen Saum und hielt liebevoll meine Hand im Fäustling. Dann kehrten wir in ein spärlich beleuchtetes Café ein, auf den alten Tischen standen Kerzenhalter, das flackernde Licht erleuchtete mein Gesicht. Im Hintergrund sang Leonard Cohen mit seiner klangvollen Stimme „Take this waltz, I’m your man“. Gespräche führten wir keine in meinen Träumereien, Umarmungen gab es dafür reichlich.
In einer ausgedehnten Traumphase passierte es plötzlich, da war es bereits November. Wir standen im Epizentrum der außerschulischen Lebensplanung – der vergitterten Garderobe – und zogen uns die Straßenschuhe an. Ich kramte gerade nach etwas in meiner Tasche, als er sich schwungvoll gegen die Tür lehnte und mich ansah. Die Stäbe der Gitterwand bebten, ich wendete meinen Kopf. Hör mal, was, wenn wir Freitagabend, was meinst du, in der Altstadt, einen Drink oder zwei?
Die Zeit blieb stehen. Dreißig Paar Turnschuhe in Plastiktüten hingen an ihren Haken, die Putzfrau raschelte mit ihren Lappen. Aus der Ferne hörte man jemanden in der Sporthalle mit einem Ball dribbeln, die Sonne schien, aus der Kantine wehte der Geruch von Kohl herüber. Freitagabend, er und ich, in der Altstadt! Ein Drink oder zwei! Ich fühlte mich wie ein Glückspilz. Mein Herz pochte, alles war wie im Film. Ich krallte mich krampfhaft an den Träger meiner Tasche. Machen wir, nickte ich, lass uns nachher reden, ich habe jetzt meine Klavierstunde. Ich griff nach meinen Noten und ging hinaus. Hinter der Schule stützte ich mich an die Wand. So spürte ich, wie sich ein drittes Auge öffnete, mit dem ich bald ein vollwertiges Leben erfassen sollte, das am Freitag um achtzehn Uhr begann.
Tag für Tag wurde ich nur noch nervöser, ich war vorher noch nie mit so einer Sache in Berührung gekommen. Anstatt mich mit Jungen zu beschäftigen, verbrachte ich meine Freizeit mit Üben, in die Altstadt ging ich nur für Konzerte. Wohin er mich wohl ausführen wollte? Würde man uns hineinlassen? Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er mich nicht um Rat fragen würde. Ebenso wenig wusste ich, was ein Drink oder zwei bedeuten sollte. Bier und Kaffee trank ich nicht, Wein verkaufte man mir nicht. Könnte ein Drink oder zwei auch Kakao sein? Ich hatte dutzende Fragen. Mein Unwissen mischte sich mit Adrenalin, Nervenkitzel mit Wunschvorstellungen. Ich wusste nicht mehr, ob ich fröhlich oder ängstlich war, ob ich den Freitag mit Spannung erwartete oder nur den Gedanken daran.
Die Uhr jedoch tickte unaufhaltsam, und schließlich war es soweit. Donnerstagabend bildete sich eine dicke Schneedecke, und ich bekam Durchfall. Schon in der Nacht brachen winterlich-frostige Temperaturen ein, sie sanken mit jeder Stunde. Als ich am Freitag in die Stadt fuhr, zog ein Schneegestöber auf, die Menschen froren an den Haltestellen, die Nasen waren in den Kragen vergraben. Ich war schrecklich nervös, ging unterwegs auf Toilette, den Player mit Leonard hatte ich zuhause vergessen. Beim Busfahrer lief russischsprachiges Radio, die Fenster waren beschlagen, der Trolleybus knirschte. Zwischendurch sprang das Geweih aus der Leitung, aber nichtsdestotrotz erreichte er sein Ziel. Hinter der Ecke des Rathauses kontrollierte ich noch flink den Lippenstift, der winzige Spiegel beschlug.
Er wartete in der Mitte des Platzes auf mich, in einer riesengroßen Wattejacke wie ein Michelin-Männchen, und wärmte sich die Hände. Während ich auf ihn zuging, musterte ich ihn. Auf seiner Mütze stand KARHU, vom Schal war keine Spur, auch von der Aktentasche nicht. Wir umarmten uns verlegen, und er führte mich in einen Pub, der im Grunde genommen nur Schüler und Finnen anzog.
Wir setzten uns in eine dunkle Ecke, auf dem Tisch brannte eine Kerze, ich schob meinen Ranzen unter den Stuhl. Die Fäustlinge stopfte ich in meinen Jackenärmel und schielte dabei heimlich zu ihm und seiner leuchtend roten Nase. Das rote Fußballshirt unterstrich seine hellen Wimpern. Meine eigene rote Nase lag verborgen unter der Abdeckcreme meiner Mutter.
„Was hättest du gerne?“
Ich spähte zum Nachbartisch und wusste nicht, was ich wählen sollte. An Geburtstagen hatte ich selbstverständlich schon einmal Wein probiert, aber ich zog stets Pflaumensaft vor. Birnencider? Und was waren Cuba Libre und Sambuca? Ich fischte nach der Getränkekarte und biss mir auf die Lippe. Mein Gefährte rief zur Bar: „Garçon, ein Originaal!“ Ein schnurrbärtiger Mann kam mit einem Bier. Gott im Himmel, ich weiß nicht, einen Kakao vielleicht? Der Mann schmunzelte und verschwand hinter der Theke. Ich kratzte etwas Wachs von der Kerze und errötete.
Je weiter die Zeit fortschritt, desto unwohler wurde mir. Ich nippte an dem Getränk, drehte den Löffel hin und her, mir war flau zumute. Er war auch aufgeregt, spülte sein Bier hinunter, über seiner dünnen, roten Oberlippe kräuselte sich der Schaum. Die kleinen dünnen Haare hatte ich dort noch nie bemerkt. Dann fing er ein Gespräch an, laut, die Sommis am Nebentisch blickten herüber. Wir durchquerten im Schnelllauf die Themen Tallinn vs. Tartu, Saku vs. A le Coq, Hemingway, Kerouac, Pulp Fiction, Fight Club, Monty Python, Beavis & Butthead, Roskilde, Sziget. Nacharbeit, der Geschichtslehrer, Eurovision, Tarantinos neuster Film. Dann trat Stille ein. Er stand auf und holte sich ein neues Bier. Sein Gang schien irgendwie federnd. Ich stahl mich zur Toilette und färbte meine Lippen, die letzte Schicht war am Tassenrand geblieben.
Als ich zurückkam, drehte er sein Bierglas in der Hand, den Blick am Fernseher, dort wurde Fußball gespielt. Wir sprachen ein bisschen über die englische Liga und davon, wie Sport den Krieg fernhält. Er hatte in diesem Bereich umfassende Kenntnisse, aber dann gingen ihm wohl auch diese aus. Ich griff nach einem Stück Zucker und wärmte die Hände an der Tasse. Spannung lag in der Luft, was jetzt wohl käme. In meinem Inneren trat eine ekelhafte Vorahnung an den Platz von Romantik und Nervenkitzel, die Stille nahm zu, die Zeit um uns dehnte sich.
Mein Gefährte zappelte auf seinem Stuhl hin und her und beugte sich nach vorne, sein Adamsapfel zuckte. Ich schluckte. Dann schob er die Kerze zur Seite, beugte sich auf den Tisch, die rechte Hand vorgestreckt. Ich senkte meinen Blick ruckartig, in meinem Bauch stach es wie vor einer Prüfung. Ich spielte mit meiner Tasse, mein Herz pochte. Die Haut an seinen Fingerknöcheln war rau und rot… und dann rutschte die Hand langsam näher.
Ich erstarrte auf meinem Sitz und stierte auf sein Handgelenk, das mich an eine fette Kreuzotter erinnerte. Sie kroch langsam aber bestimmt in meine Richtung, ich saß gelähmt da wie eine verängstigte Maus. Die Hand hielt nicht an, sie kam immer näher, bereit zuzugreifen, zu verschlingen … schließlich erwachte ich aus der Trance, ich zog meine Handfläche vom Tisch und stieß dabei plump gegen die Kerze. Das flüssige Wachs löschte die Flamme, doch die Kerze blieb aufrecht stehen. Auch seine Hand zog sich zurück.
„Bestellen wir noch etwas?“
Unbeholfen verkrampfte ich meine Hand unter den Sitz, sein ManU-Shirt flammte vor meinen Augen auf. Ich bemerkte abscheuliche kleine Pusteln an seinem Hals. Der Typ meiner Träume hatte keine Pusteln. Und generell war alles anders, auch die Haare auf seinen Armen und der unsichere Blick. Ich wollte mit ihm nicht im Schneefall spazieren gehen gehen, vom Händchenhalten ganz zu schweigen. Ich wollte in mein Zimmer, an mein Klavier, zu den Büchern, wo es nicht so einen Ochsen gäbe; ich wollte mit meinen Eltern die Nachrichten schauen und Uncle Ben's mit Ananas essen.
Die Uhr hatte die Zehn erreicht, da gingen wir endlich. Schnell mit dem Taxi nach Hause, dachte ich nur. Das Universum hatte jedoch andere, bösartigere Pläne. Wir traten nach draußen, der Wind schlug uns ins Gesicht, das Thermometer am Rathaus zeigte –20. Der Taxistand war leer. Die gelben Wagen fuhren an uns vorbei. Mit den Piraten – den illegalen – durfte ich nicht fahren. Die Laternen flimmerten. Also joggten wir, unsere Rücken vor Kälte gekrümmt, am Kiosk vorbei bis zur Haltestelle. Die Stadt war wie ausgestorben, nur einzelne Gestalten hier und da.
Ich spürte, wie meine Zehen in den Stiefeln vor Kälte stachen, die Autos rauschten vorbei, auf dem Weg türmten sich überall hohe Schneewehen auf. Der Trolleybus kam rasch, er hielt mit einem Ächzen an, das helle Licht stach in den Augen. Bald zu Hause, dachte ich erleichtert, aber dann trat er näher, und ich begriff erschrocken, dass der Abend noch lange nicht vorbei war. Er wohnte auf der anderen Straßenseite von uns, und plötzlich wusste ich genau, was mich erwartete. Er würde mich nach Hause bringen und dann, vor der Haustür, auf der Treppe... Die Vorahnung ließ meine Beine schwach werden.
Der Trolleybus schaukelte und krachte, und die Haltestellen flogen an uns vorbei. Ich hatte regelrechte Panik. Ich wollte nicht, dass mein erster Kuss in der gelben Dämmerung eines Betonplattenbaus mit meinem beflaumten Klassenkameraden stattfinden würde, schrecklich, schrecklich, was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Die Türen öffneten sich, und auf die unterste Stufe fiel jede Menge feiner Schnee. Und dann sah ich meine Gelegenheit.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell.
Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell. Und da war er wieder.
Wir stapften weiter. Der Wind wirbelte zwischen den Plattenbauten hindurch. Drei Haltestellen, ich zählte sie hinunter. Die Zeit tickte gnadenlos, die Straßenlaternen schienen gedimmt. Es gab elektrische Dreiecke an den Fenstern, in einiger Entfernung erklang der nächste Trolleybus. Die kahlen Bäume warfen ihre Schatten in den Schnee, die Rohre der Geräte auf dem Spielplatz leuchteten. Was ist, wenn ich sie anlecke, dachte ich verzweifelt, um es hinauszuzögern...
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen.
Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
Die Lampe über den Stufen flackerte. Er blieb stehen und zog die Handschuhe aus. Ich schaute mit klopfendem Herzen nach unten und wusste, dass es kommen würde. „So ein schöner Abend! Du bist ein besonderes Mädchen. Könnte ich...?"
Kannst du nicht!, seufzte ich innerlich.
Die rote Nase kam näher, das KARHU-Etikett kam näher. Ich roch Deo und Bier. Es gab keinen Pfosten mehr, keinen Rückzugsort. Die Zeit war abgelaufen. Ich will zurück, schaffte ich noch zu denken. Auch das noch!
Die Pfosten waren zurück, der Zehnte, der Neunte, die Panik und die Schneewehen. Der Wind trug uns fort, und wir schwebten an die Haltestelle, in den Trolleybus. Der schaukelte rückwärts in die Stadt, die Zeit trieb uns in die Kneipe, zum Tisch ganz hinten. Und dann waren wir wieder in der Schulgarderobe.
Hinter den staubigen Fenstern leuchteten Bäume, es hatte noch nicht zu schneien begonnen. Aus der Turnhalle hörte man einen Ball gegen die Wand prallen. Hör zu. Was, wenn wir Freitagabend ... einen Drink oder zwei?
*
Ich fuhr zusammen. Die Tür zum Flur öffnete sich, meine Lehrerin stand vor mir. Sie winkte mich zu sich und schloss die Tür. Komm, lass uns kurz reden.
echnisch war alles einwandfrei, sie waren mit der Etüde und dem langen Stück zufrieden. Beherrscht das Instrument, hatte jemand notiert, überzeugend und sicher, Talent ist da. Nur diese Phantasie, schwach und halbherzig, wenig nuanciert, dazu flach, verträumt. Chopin dagegen - mehr Mut und Tempo! Lass sie nochmal spielen, mit Hingabe. Immerhin steht ein Stipendium auf dem Spiel. Einverstanden?
Ich senkte den Blick, meine Kehle schnürte zu. Auch das noch, dachte ich. Mama muss heute Krapfen machen, die mag ich am liebsten.
Aus dem Estnischen von Marcel Knorn
14. jaanuar 2022
"Piia Präänik ja sõnasööbik" Postimehes
INTERVJUU ⟩ «Lastekirjandus ei pea olema täiesti põrutuskindel!»
Nii nagu kurjategija pöördub väidetavalt peaaegu alati tagasi kuritööpaigale, pöörduvad kirjanikud – ning iseäranis lastekirjanikud – sageli tagasi oma kunagiste tegelaste juurde. Nii ka teie: äsjailmunud raamat on Piia Präänikule ja seltskonnale juba kolmas. Miks?
Präänikute maailm on mulle koduseks saanud, nii et küllap jätkan, kuniks elaani jätkub. Tegelased ei lase samuti lõa otsast lahti, nad on nagu kassid, kes klopivad hommikul uksele ja tuletavad meelde, et on aeg lemmikuid hooldada. Pealegi oli Piial viimane aeg kooli minna. Kolmas raamat räägibki tänapäeva koolielu sekeldustest, kuigi Präänikutele omase kiiksuga. Aga kindlasti ei kasva Piia suureks ega lähe ülikooli või pärast tööpäeva jõusaali kangi tõstma. Ka muumitrollidest ei saanud arvukate raamatute jooksul pagareid või pensionäre, püüan vastata samaga.
Mida tähendab lastekirjanikule kirjutada järjestikku kolmas teos samast sarjast? Mis on lihtsam, mis raskem?
Atmosfääri ja maailma loomine on hõlbus, sest on suuresti varasemast valmis. Samuti tunnen lähedalt tegelasi – millegipärast on nad pühendanud mind oma siseelu kaemustesse. Peamurdmist nõuab pigem vaatenurk, kust uut lugu punuma hakata, aga õnneks pakub tänapäeva elu piisavalt sõgedust. Pole tarvis muud kui lahtiste silmadega ringi käia ja vaadata õhtuti «Aktuaalset kaamerat»! Väga lõbustav on punuda Piia lugudesse ühiskondlikke tobedusi, aga ka argipäevaelu, mis on alati värvikam ja naljakam, kui esmapilgul tundub.
Kui kaugele saab lastele kirjutades argielu sissetoomisega minna? Minu lapsepõlves näis lastekirjanike hulgas justkui valitsevat eeldus, et lastele kirjutatu peab olema võimalikult muinasjutuline – ehk elukauge. Kas lapsi on vaja tegelikkuse eest kaitsta?
Valik on kirev ja mõned lapsed eelistavad realistlikke lugusid, teised pigem fantastikat, kuhu tavaelust põgeneda. Lasteraamat võiks igal juhul last toetada ja aidata tal ümbritsevat mõista, miks mitte pakkuda ka samastumisvõimalust. Tõsiseid teemasid pole vaja karta, pigem on küsimus, kuidas neid käsitleda. Põhjamaades ilmub ohtralt lastekirjandust, mis tegeleb raskete teemadega, nagu lähedase kaotus, vanemate lahkuminek, üksindus, mure keskkonna pärast.
Kõigest on võimalik rääkida soojuse ja osavõtlikkusega, isegi huumoriga, ja selline raamat võib olla suureks abiks. Samamoodi on tarvis ka helget ja lõbusat lugemist, aga see ei pea olema põrutuskindel. Mulle endale meeldib üliväga keerata päriselule peale absurdi ja fantaasia vint, kõik on just nagu päris, aga nihkes, värvilisem ja rokkivam. Moraalilugemine on ka üks õudne asi, õpetussõna võiks pigem olla tekstiülene. Ma ei hakka ju kirjutama lauseid nagu «PALUN SÖÖGE JUURVILJU» või «ÄRA NOKI NINA» või «DAAMIDE NÄPISTAMINE LÕPETADA».
Tean, et käite sageli noorte lugejatega kohtumas. Kas või kuivõrd on neilt saadud tagasiside suunanud teie loomingulisi otsuseid? Või muutnud koguni varasemaid arusaamu lastekirjanduse võimalustest ja vajadustest?
Lastest kriitikud on väärt liik, mõni selline kuluks igale kirjutajale lauaservale ära. Saab kohe teada, mis meeldib, mis mitte, mida välja rookida, aus reaktsioon on tänuväärt asi. Tagasiside põhjal ma teadlikult eelistusi ei muuda, küll aga korjan koolides hoolega komprat ja ideid – mis ripakil, see ära!
Kohtumiste põhjal on ka selgesti näha, et iga lapse jaoks on kusagil talle oluline raamat, see tuleb lihtsalt üles leida. Agarast unejutukuulajast võib vabalt saada lugev täiskasvanu, talitsege oma sisemist laiskvorsti ja lugege ette! Soovitan eeskuju võtta näiteks Piia isast Paul Präänikust, kes luges tütrele ette kõike, sealhulgas jalkauudiseid ja kasutusjuhendeid, kuidas lampi paigaldades mitte elektrisokki saada.
Mida lohutavat ütlete sellistele lugejatele nagu mina, kes on veidi nördinud, et Piia Prääniku kahe esimese loo tähttegelaseks tõusnud noorpoliitik Siim Susi on seekord natuke teenimatult sellest loost välja kirjutatud? Kas püüdsite kirjutades seda kaotust teadlikult millegagi-kellegagi kompenseerida?
Muretsemiseks pole põhjust – Siim Susi puhkab pisut jalga ja naaseb kindlasti, las kogub vahepeal materjali. Tõstsin vahelduseks rambivalgusesse ka teisi ametimehi, selles raamatus külvab segadust näiteks meedia. Uudishimuliku reporteri küüsi sattumine võib tuua kaasa tülikaid tagajärgi, võite lõpetada näiteks nagu mina, vastates nördinud ajakirjaniku küsimustele! Aga tõsiselt rääkides, sõna jõud ja selle mõju on kolmanda raamatu fookuses küll. Kuidas hoida end ja oma kalleid? Hea sõna võib päästa päeva.
Mulle on selle seeria raamatute puhul meeldinud lisaks tekstile väga ka pildid, mille autor on Ulla Saar. Kuidas teie koostöö välja näeb?
Mina kirjutan loo valmis ja siis asub tööle Ulla, kunstniku loomeprotsessi ma ei sekku. Raamatutest räägime muidugi omajagu, eriti pühapäevahommikuti lemmikkohvikus, kütteks kommid ja kohv. Sarnane kirjanduslik maitse ja huumorimeel käivitab hea sünergia. Tavaliselt näitab Ulla pilte juba töö käigus ja rõõmustan alati mõne nutika vaatenurga üle, mille ta on välja haudunud.
Ulla loob illustratsiooniga lisatasandi, mis lisab vürtsi ja laiendab lugu, vihjab enamale, kui tekstis kirjas, ja on sageli väga naljakas. Lisaks Piia-lugudele hakkame uuest aastast punuma lastejutte ka ajakirjale Pere ja Kodu.
Olete end tõestanud ka täiskasvanutele kirjutades. Teie jutt «Relaps» võitis 2018. aastal Loomingu aastapreemia, mullu olite kogumikus «Eesti novell 2020» esindatud jutuga «Ümbermäng». Miks te pole rohkem täiskasvanutele kirjutanud? Kunas on oodata esimest jutukogu või romaani?
Kuidagi ei tahaks lastele kirjutamist jätta, et veeta mitu aastat täiskasvanute romaani otsas marineerides, aga ei saa salata, et selline mõte on aeg-ajalt pähe torganud küll. Kui Präänikud mind oma kambaga mõneks ajaks puhkusele lasevad, vaatame edasi.
Arvustus: Tsaumisteed, Piia Präänik?
Krista Kumberg, lastekirjanduse uurija
Sõbrad ei jäta üksteist maha. Kui on pahasti, tuleb rääkida. Kellelegi ei tohi liiga teha. Teistmoodi ongi hea. Taolisi tõdemusi manustab Kairi Look lugejatele lõbusa lastejutu ladusa kulgemise käigus nagu muuseas.
Kas teadsite, mis valitseb koolis suvevaheajal? Üleüldine tüdimus, vaat mis. Tolm igavleb kapiserval, gloobus näitab tahvlile keelt ja kalender nokib nina. Kõik ootavad lapsi kooli. Sellisest teadmisest kantuna algab Kairi Loogi kolmas raamat Piia Präänikust. Piia läheb esimesse klassi, leiab uusi sõpru ja kohtab üht iseäralikku olevust.
Koolielust kirjutatakse meil lastele mitu korda vähem kui lõbusatest ja nunnudest fantaasiaolenditest. Kairi Look on need kaks teemat kokku põiminud. Tema lähenemine koolielule (nagu ka kõigele muule) on üdini positiivne ja humoorikas, tõepärane ning samas on põhjust raamatu iseloomustamiseks kasutada sõnapaari «maagiline realism». Kappi pandud küpsisest saab kolm küpsist, kapp ise ilmub ja kaob, nagu ka onu Vello külapoe juures, ning kass võib vabalt autorehvid puruks lõikuda, kui keegi on tal üle saba sõitnud. Loomulik ju!
Veidrad täiskasvanud
Autor annab pildi sellest, milline kool ja klass olema peaksid: lahke, tark ja noor õpetaja, õpilaste seas pole kedagi, kes oleks ebasõbralik või kiusakas, õpitakse ja käiakse koos huvireisidel. Koolilugudele iseloomulikult tähistatakse kalendritähtpäevi ja raamatu lõpuks on jõulud käes.
Autoril on õnnestunud nappide joonte ja põgusate (aga järjekindlate) vihjetega luua mitu naksakat karakterit. Piia on jätkuvalt pipilik, Anna heas mõttes kõige «preilim», Uku looduse ja keskkonnahoiu teemadega hästi kursis, Markus (arvatavasti «spektriga») väga faktitark ning arvudega sina peal jne. Ukraina päritolu on oma jooned andnud Aleksile, kärgperendus Liisa-Lottale. Kokku saab vahva kamp uudishimulikke ja ettevõtlikke lapsi, kes on valmis vastutust võtma ja hoolt kandma nii võõra olendi kui ka lapsemeelsete täiskasvanute eest.
Täiskasvanud on Loogi raamatus ikka väheke veidrad. Lapsed suhtuvad neisse üksjagu patroneerivalt. Nagu oleks rollid vahetusse läinud! Võta või Liisa-Lotta kolm vanaema ja Piia isa. Eks selline äraspidisus annab võimaluse lugejal end mõistliku ja võimekana tunda. Välismaalasi kujutab autor järjekindlalt sooja huumoriga.
Sõnasööbiku sünd
Piia eelmises raamatus sai nalja kanadalasest Jackiga, siin on Anna prantslasest isa see, keda kohalikud kombed kohutavad. Keegi pole päriselt paha. Ainus ebasümpaatne tegelane on sensatsioonihimuline teleajakirjanik Bobi Berens. (Eelmise Piia loos oli selleks noorpoliitik Siim Susi, keda ka selles raamatus meeles peetakse.) Kuid üldjoontes on tegemist lottelikult vägivallavaba looga. Huumor ja põnevus sünnivad ootamatult hoopis muudest allikatest kui konflikt ja vastandamine. Linnuvaatluspäev, kontsert ja isadepäeva öömatk on ootamatuid pöördeid ja nalja täis, aga ka see, mida autor öelda tahab, tõuseb esile.
Kuid nüüd raamatu teise nimitegelase juurde. Hämmastav, et ikka veel on võimalik välja mõelda üha uusi fantaasiaolendeid oma eripärase näo, iseloomu ja looga. Näib, nagu oleksid kõikvõimalikud Pätud, näpsud, snupsid, pokud, nüffid, nunnikud ja muudsorti tegelinskid juba tee kirjandusse leidnud. Oma raamatutegelast luues on autor kokku seganud mõnusa präänikutaigna – lilla Krõlli välimusega tüübis on paras annus Karlssoni enesekindlust ja -kesksust ning täitmatut magusaisu.
Talle on antud Donald Bisseti tiigri toitumiseelistused. Tiiger sai söönuks juttudest, Sööbik paberile kirjutatud toidunimedest. Nagu Viplala, on temagi n-ö pagulane. Sõnasööbikute kuningriigis ei maitsenud Sööbikule nr 186 Kunni sõnad (kuivanudsaisorrijuustsaiotsa ja kõrbenudpiimasuppagasööikkagi näiteks), nii ta jalga laskis, sattus esmalt trükikotta ja sealt kooli. No ja lõppeks, eks tema (liigi?) nimigi on Thorbjörn Egneri raamatu kaanelt tuttav. Vihjeid-viiteid-tsitaate leiab lastekirjandusega sina peal olija raamatust küll ja veel.
Kesklinna kooli 1. a klass võtab enesele südameasjaks hoolitseda sõnasööbiku eest: nad toidavad teda ja otsivad talle turvalisemat kodu kui õpikukapp klassis ja kaitsevad pealetükkiva ajakirjaniku eest. Sööbikule ei sobi ei teater, mets, talu, Iloni Imedemaa ega peatu ta ka pikemalt räppar Kukimuki kodus. Vastu uutele seiklustele, lubab loo lõpp arvata.
Kahju on sellest, et Kairi Look kolistab sama ämbriga, millega paljud enne (ja kindlasti ka pärast teda). Haapsalus asuvat Iloni Imedemaad kirjeldades paneb ta ühte patta Pipi ja Karlssoni, Vahtramäe Emili ja Bullerby lapsed, meisterdetektiiv Blomkvisti ja vennad Lõvisüdamed. Ilon Wikland ei ole joonistanud ei Pipit, Emilit ega Kallet. No ja ega Ilon ikka Rootsis üles ei kasvanud, nagu Look laseb õpetajal lastele seletada. Ilon oli 14, kui läks ja Rootsis asus ta õppima kunstikoolis ja hakkas kooli kõrvalt varakult tööle. Lapsepõlv oli läbi. Lastel on väga hea mälu ja seepärast olgu teave kas õige või nii fantaasiaküllaseks keeratud, et pole kiusatustki seda tõe pähe võtta.
Kairi Look on üks helgemaid ja vallatumaid autoreid meie lastekirjanduses. Tema kaheksas raamat (ja kolmas Piia Präänikust) vastab ootustele ja paneb soovima, et ta õige pea üheksanda raamatu välja annaks. Ah jaa, mis on saanud Piia sõbrast Villemist ja «kohutavatest» kolmikutest, kes eelmises Piia Präänikus tegutsesid?
13. jaanuar 2022
2021 raamatutes
Helju Mänd: Nõgesed ja nartsissid
8. detsember 2021
Piia Präänik ja sõnasööbik
1. septembril läheb Piia Präänik esimesse klassi. Otsekohe selgub, et koolis on midagi lahti: seinal laiutavad lillad kleepuvad jäljed, kalendrist on välja kistud šokolaadijänes ja aabitsakapist kostab jorinat. Piia asub sõpradega uurima, kes või mis nende klassis elab. Samal ajal kaovad aabitsast, klassitahvlilt ja mujaltki salapäraselt täht tähe haaval sõnad: KOMMID, LIMONAAD, CRÈME BRÛLÉE ja isegi БОРЩ... Kes on salapärase sõnumi VIINERIDKETSUPIGAGAÄRGESINEPITPANGE taga ja millega ta tegeleb? Saladuskatte all võib öelda, et tegu on eksemplariga nr 186 ja temas voolab kuninglikku verd.
Pildid on joonistanud Ulla Saar. Piia Prääniku lugudega on varem ilmunud kaks raamatut: „Piia Präänik kolib sisse“ ja „Piia Präänik ja bandiidid“.