23. september 2022

Der Rückfall; Alles auf Anfang (Neue Nordische Novellen VII, 2021)

Der Rückfall

Ich stieß die Ladentür auf. Seit Roberts Brief auf dem Küchentisch war ein ganzes Jahr vergangen, jetzt war ich bereit für einen Neuanfang. Ich wollte einen verlässlichen Freund, der mir zur Seite stünde, aber gleichzeitig unbekümmert und selbstständig sein musste. Die Verkäuferin zögerte keine Sekunde. Sie wusste sofort, was ich brauchte.

„Exotisch und weich,“ sagte sie. „Vernünftig und unabhängig, ausdrucksstark, lässt sich gerne streicheln und bewacht das Haus.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus, ja, er war wirklich weich. Ich nahm ihn sofort mit.

Aber das andere, das erwähnte die Verkäuferin mit keinem Sterbenswörtchen.

KOMM SOFORT, schrieb der Tiger. HUNGER. STIMMUNG ÄUSSERST MISERABEL. T.

Ich knüllte das Telegramm zusammen und seufzte. Die Forderungen wurden immer dreister. Ich will es ja gar nicht verschweigen – der Tiger ließ sich wirklich gerne streicheln und bewachte mein Haus, aber dazu dreimal täglich ein dringendes Telegramm! Anfangs freute ich mich noch über eine Nachricht von ihm – wer kriegt nicht gerne Post von zu Hause! Aber je länger es dauerte, desto anspruchsvoller wurde sein Ton, und schließlich stieg er auf die Telegramme um. Die Lage verschlimmerte sich rapide, bald verstrich kein Tag mehr ohne eine Nachricht vom Tiger. Mit Selbstständigkeit hatte das nichts zu tun.

Im Frühjahr war die Schublade auf der Arbeit voll mit Telegrammen vom Tiger, und alle meine Haushaltstage waren aufgebraucht. Im April war ich eine ganze Woche zu Hause, weil der Tiger es so wollte. Er baute sich eine Hütte vor der Tür und saß dort tagelang, nicht einmal für sein Geschäft entfernte er sich. Erst als der Kühlschrank leer war, ließ er mich auf den Markt, aber nur in die Fleischabteilung. Und er gab mir einen Einkaufszettel mit: Wild und Pastete. Salat durfte ich im Kühlschrank nicht aufbewahren, er sagte, das sei was für Hasen. Abends sorgte er dafür, dass ich zeitig ins Bett ging, und zog mit aufgestelltem Schwanz seine Kreise um mein Bett. Die Lage ähnelte gefährlich meiner Vergangenheit. War der Tiger am Ende ein Bekannter von Robert? Aber egal, das führt zu weit, lassen wir das.

Sprechen wir lieber über die Arbeit.

Was ich sagen will, ist, dass ich mich ja nicht ständig mitten am Tag davonmachen konnte. Jede Woche der gleiche Ärger. Alle meine Kollegen wussten es, sogar der Wachmann, sie waren teilnahmsvoll und mitfühlend. Vermutlich erinnerten sie sich an die Vergangenheit und machten sich Sorgen, dass ich den gleichen Fehler noch einmal machen würde. Ich widersprach ihnen aber, ich wollte nicht bemitleidet werden und sagte, dass ich diesmal einen Selbstständigen habe. Aber am Ende wurden die Nachrichten vom Tiger doch so erdrückend, dass ich mich schweren Herzens auf den Nachhauseweg machte. Monatelang ging das so. Mein ganzer Jahresurlaub war schon für den Tiger draufgegangen. Und so fasste ich den Entschluss, dass es jetzt reichte, das Maß war voll. Ich redete mit dem Tiger, ich hatte ein Gespräch mit dem Therapeuten, alles

schien klar. Wir legten Grenzen fest und was wir voneinander erwarten konnten, mit den Telegrammen musste jetzt Schluss sein. Aber schon am nächsten Tag kam das Telegramm, das ich bereits erwähnt habe:

KOMM SOFORT. HUNGER. STIMMUNG ÄUSSERST MISERABEL. T.

Ich warf den Wisch in den Papierkorb und dachte, denkste, Tiger, diesmal nicht. Für den Abend legte ich mir alles im Kopf zurecht: Die Deadline des Projekts, Sitzung, Protokoll schreiben, ich konnte einfach nicht eher kommen ... Ich probierte es sogar vor dem Spiegel aus, damit es natürlich rüberkam. Dann setzte ich mich wieder an den Schreibtisch, sah die Berichte durch und ging mit Kollegen mittagessen. Ich fühlte mich stark. Aber als ich ins Büro zurückkam, winkte mich die Sekretärin mitfühlend zu sich. Auf der Tischkante lag ein Telegramm. Ich begleitete sie mit den Augen zur Tür und faltete das Papier auf.

KÜCHE LEER DREIMAL KONTROLLIERT BITTE BEEILUNG. T.

Ich spürte ein Kneifen im Bauch, und mir wurde schwarz vor Augen. Erst gestern habe ich vier Kilo Rauchwurst vom Supermarkt nach Hause geschleppt, eine Delikatesse mit Parmesan, und dem Tiger zum Fressen überlassen. Das letzte, was ich am Morgen sah, bevor ich zur Arbeit ging, waren drei dicke Würste auf dem Küchentisch, ich habe sogar noch die Pelle abgemacht. Ich griff nach dem Telefon und war bereit zu einer Tirade. Dir werde ich was erzählen, Tiger!

Das Telefon klingelte, der Hörer wurde von der Gabel genommen... und wieder aufgelegt. Ich rief nochmal an, es geschah dasselbe.

Ich glotzte auf das tutende Telefon, während der Hörer in meiner Hand zitterte, dann legte ich auf. Ich holte Luft, wie es ich beim Yoga gelernt hatte: tief durch die Nase ein- und ausatmen, und das zehnmal. Ich schloss die Tür ab und legte mich rücklings auf den Boden, dabei wiederholte ich das Mantra „Der Tiger ist mein Freund“. Ich dachte an einen sonnigen Sandstrand, wie mir mein Therapeut empfohlen hatte. Danach stand ich auf und machte mir in der Küche einen Kamillentee. Das Telegramm des Tigers warf ich weg.

Der Kamillentee half, oder war es eher die Atemübung? Ich vertiefte mich erneut in meine Aufgaben und konnte eine ganze Stunde lang ungestört arbeiten. Ich machte mir einen Wochenplan, bereitete mich auf die Sitzung vor, sogar an den Tiger dachte ich einmal kurz und musste lächeln. Was bist du doch für ein heißblütiger Freund! Ich nahm mir vor, am Abend alles ruhig mit ihm zu besprechen und ihm dann Janosch vorzulesen, denn das mochte der Tiger immer sehr. Wir beide zusammengerollt mit einem Buch auf dem Sofa, mir wurde ganz warm ums Herz. Niemand daddelt auf seinem Telefon herum, niemand sägt in der Garage, nur Liebkosungen und Literatur! Ich war gerade beim Kopieren, als es an der Tür klopfte. Die Sekretärin hatte ein schmerzverzerrtes Gesicht.

VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE T.

Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Sicherheitshalber las ich mir das Telegramm noch dreimal durch.

VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE VERHUNGERE SCHWARZ VOR AUGEN MAYDAY HILFE

Das beruhigte mich kein bisschen, im Gegenteil, es brachte mich vielmehr auf die Palme. Was für ein Unsinn, ich habe ihn doch trainiert! Monatelang haben wir geübt, alleine in die Wanne zu steigen und sich Brote zu schmieren, Butter aufgestrichen und Wurst geschnitten. Selbst mit dem Kirschenentsteinen und der Spülmaschine kam der Tiger prima zurecht. Mein Gott, das war schon viel mehr als bei Robert! Und jetzt so was.

Ich muss ehrlich sagen, in diesem Moment traute ich dem Tiger nicht mehr und hatte das Gefühl, dass er durchgedreht war. In einer Partnerschaft sind Sie leicht manipulierbar, auch das hatte der Therapeut mir gesagt, sehen Sie sich vor und schützen Sie sich selbst.

Genau das werde ich jetzt tun, nahm ich mir vor, ich scheiße auf das Telegramm. Von wegen verhungern, dass ich nicht lache, mayday... MAYDAY! Die Verkäuferin hatte noch gesagt, dass der Tiger auch Fremdsprachen beherrschte, was sich aber nur in Krisensituationen zeigen würde!

Mir wurde ganz elend zumute. Mein Gott, war das jetzt also eine Krise? War ich nachlässig und egozentrisch gewesen, hatte ich mich zu wenig gekümmert, Alarmsignale ignoriert?

Denn trotz des unbeschwerten Beginns, als sich der Tiger wie ein Tiger benahm, gab es durchaus einige Anzeichen. Ein steigendes Geltungsbedürfnis, Schmollen in der Ecke, Launen und Anflüge von Bockigkeit. Auch gab es hin und wieder einen zerbrochenen Teller und kleine Häufchen auf dem Küchenfußboden. Absichtlich zertrümmerte der Tiger Roberts alten Humpen und machte Flecke in die Bücher, die ich von ihm bekommen hatte. Er belästigte meine Freunde, besonders die Männer, pinkelte meine Freundin an, die eine Hose mit Panthermuster trug, jammerte und knurrte. Wenn ich mich an den Computer setzte, kletterte der Tiger auf den Tisch und drückte ständig die Reset-Taste. Schließlich hatte ich ihn zum Auto geschleppt und war mit ihm zum Psychologen gefahren. Der Therapeut empfahl, feste Grenzen zu setzen und ließ durchschimmern, dass es sich um ein Kindheitstrauma handeln könnte. Der Tiger stritt alles ab und verzog keine Miene. Ich kam mir ganz dämlich vor. Schließlich verließen wir die Praxis doch einvernehmlich, wir hatten eine Vereinbarung getroffen. Eine Zeit ging alles gut. Dann aber fingen die Telegramme an...

Ich zupfte an dem MAYDAY-Telegramm herum und überlegte mit klopfendem Herzen, wie es jetzt weitergehen sollte. Obwohl das Verhalten des Tigers eine Sauerei war, saß mir die Angst im Nacken. Was ist, wenn bei ihm noch andere Dinge nicht in Ordnung sind, schwere Traumata, Seelenqualen? Vielleicht sitzt der Tiger gerade jetzt in Tränen aufgelöst zu Hause, das Kissen ist schon ganz nass, oder er schneidet sich im Badezimmer mit einer Rasierklinge in den Schwanz, während ich hier mit versteinertem Herzen sitze und meine Schublade voller Hilferufe des Tigers ist? Nein, das konnte ich nicht zulassen. Ich stand auf.

Ich bat die Sekretärin, die Sitzung abzusagen und versprach ihr anzurufen, sobald ich zuhause war. Auf dem Parkplatz fing ich an zu laufen, die Schlüssel und das Tictac- Döschen klapperten in meiner Tasche. Mit achtzig Sachen raste ich durch die Stadt, wechselte ständig die Spur und besorgte mir im Supermarkt noch das Lieblingsfleisch des Tigers. Beschäftigung half, als ich die Treppe raufrannte, war ich schon voll gespannter Erwartung. Gleich werde ich den Tiger in den Arm nehmen, dann reden wir miteinander, und hinterher essen wir Pastete. Alles wird gut! Ich wollte den Schlüssel ins Schloss stecken und erstarrte. Das Schloss war kaputt, die Tür schwang auf.

Ich ließ die Einkaufstasche auf den Boden fallen und sackte gegen den Türrahmen. Die ganze Wohnung war auf den Kopf gestellt, auf dem Boden lagen zwischen Tapetenfetzen und Vasensplittern verstreut Bücher herum. Die Gardinen waren in Streifen gerissen, im Sofa war ein Loch, und die Wand war mit großen, schwarzen Tigerspuren übersät. Mitten in dem Chaos lag überall zerknülltes Papier, mein ganzer Vorrat an Schreibpapier war aufgebraucht. Der Tiger war nirgendwo zu sehen.

Ich betrat schweigend die Küche. Auch hier kein Tiger. Stattdessen fand ich auf dem Tisch einen verschmierten Zettel mit krummen Buchstaben.

ÄTSCH TOWARISCHTSCH BIN MIT BERNHARD WEG BESUCH UNS MAL LASS UNS FREUNDE BLEIBEN

Darunter war in einer ordentlichen Handschrift hinzugefügt:

Wir haben ein Telegramm bekommen und den Tiger zur Beruhigung mitgenommen. Rufen Sie im Zoo an. Bernhard G. (Tel. 658 1124)

PS. Ihr Tiger spricht Russisch! Ein beispielloser Fall!

Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich setzte mich auf den Boden und weinte ein wenig. Dann fing ich an, die Wohnung aufzuräumen.

*

Bis heute wohnt der Tiger bei Bernhard. In den ersten Monaten war es schwierig, aber ich bekam ärztliche Hilfe. Jetzt arbeite ich halbtags und habe mehr Energie, meine Abende sind frei. Angerufen habe ich noch nicht, dazu muss ich noch Mut sammeln. Anfangs jagte ich alle Partnerschaftsanwärter fort, aber jetzt habe ich einen. Wir gehen gemeinsam ins Kino und die Kneipe, er kann selbst kochen und liest gerne, ich glaube, er stellt keine Gefahr dar. Gestern schlug er vor, nächsten Samstag in den Zoo zu gehen, aber ich weiß nicht recht, ein bisschen Angst habe ich schon. Der Tiger hat allerdings vor einer Woche ein Telegramm mit vielen Grüßen geschickt und mitgeteilt, dass er ordentlich zu Essen bekommt. Fremdsprachige Wörter verwendete er nicht. Unterschrieben war mit T.

Natürlich blutet mir manchmal das Herz wegen der Sache, aber was soll man machen. Man lernt aus seinen Fehlern! Ich setze die Therapie noch ein paar Wochen fort, dann schauen wir mal, wie es weitergeht.

Aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt



Alles auf Anfang 

Schlussakkord. Ich atmete erleichtert auf und nahm vorsichtig den Fuß vom Pedal. Der Kommissionsvorsitzende bedankte sich, ich erhob mich und räumte die Noten vom Pult. Der leere Saal schallte unangenehm. Absätze auf Parkett. Wir telefonieren später, gab mir meine Lehrerin über die Schulter zu verstehen. Ich nickte und ging hinaus.

            Ich lehnte mich gegen die kalte Wand des Korridors und ließ die gesamte Prüfung mehrmals Revue passieren. Die Arpeggios waren nicht aus der Form, sie liefen plätschernd, das Tempo war okay, die Ausgestaltung saß. Chopins Phantasien forderten Empfindsamkeit, man durfte jedoch nicht ins Träumen kommen. Ich hatte mich wochenlang geplagt, die richtige Tonalität gesucht, das Gleichgewicht. Jetzt hieß es nur noch abwarten und auf das Beste hoffen: auf den Sieg und das Stipendium. 
            Schon als Kind war ich eine kleine Träumerin gewesen, mir mangelte es nie an Phantasie. Ich sehnte mich nach einem großen Bruder und einer Krapfenmaschine, einer Barbiepuppe und einem Kätzchen, nach Schuhen mit Klettverschlüssen; später auch nach einer Brieffreundin in Schweden, einem Klavier, einem eigenen Zimmer. Und schließlich: nach dem Sieg im Wettbewerb, dem Auslandsstipendium und selbstverständlich einem Verehrer. Der sollte älter sein als ich und nett, und kultiviert … insgeheim hoffte ich, dass er Semiotiker wäre, mit einem Schal. Und darum traute ich bei der Abschlussfeier kaum meinen Augen – dort saß er und war so vollkommen! Genau, wie ich ihn mir erträumt hatte: groß, zerzauste Haare, mit Füllfederhalter und Aktentasche. Selbstbewusst, aber einfühlsam, belesen, diskutierte mit den Dozenten, lernte fleißig. Er war noch nicht immatrikuliert, aber was bedeutete das schon, ich war ihm auch so auf der Stelle verfallen.     
             Ich spionierte das ganze Semester herum, um herauszufinden, was er liest, und machte mir heimlich Notizen. Hemingway kannte ich natürlich, aber dieser russische Eisenbahnroman, wo ständig getrunken wurde, der war mir neu. Die Klassenkameraden, die ihn wie Jünger umgaben, lauschten ihm und erklärten bald allen, dass sie im Sommer nach Pamplona fahren wollten. Insgesamt umgab ihn die Aura eines Anführers, er war nach Genialität ausgerichtet. Er sagte nicht beziehungsweise, sondern respektive, und dann noch ergo, das kam aus dem Lateinischen. Bei Feiern war er ein geschätzter Redner, er hatte eine laute Stimme und wusste sich Ironie zu bedienen. Ich widmete ihm alle Phantasien Chopins, doch das war nur die Spitze des Eisbergs. Obendrein las ich diesen Roman über den Stierlauf, kaufte Platten von Bob Dylan, sah mir Tarantino-Filme im Kino an. Mit großer Mühe übersetzte ich den Monolog des wütenden Schwarzen, der so wild schimpfte! Nach dem Unterricht versteckte ich mich hinter der Schule, um dann wie von ungefähr aufzutauchen und mit ihm in den Trolleybus zu steigen. Ein paar schamlose Klassenkameradinnen stellten ihm ebenfalls nach, ich vertrieb sie, so gut ich konnte. Ich musste ständig auf der Lauer sein, die verbliebene Zeit gehörte dem Träumen. Ein langer Schal und die Aktentasche, darin die Bücher… mit so einem Jungen konnte man wohl im Schneetreiben spazieren gehen.          
            Die Zeit verging, und die Schulaufgaben blieben auf der Strecke, das Klavierspielen ebenso, meine Etüden wurden wackelig. Die Lehrerin schüttelte den Kopf, sprach es aber nicht direkt aus, verwies nur entfernt auf den Dezember. Zu meiner eigenen Überraschung merkte ich, dass der Wettbewerb mich kalt ließ, abends lümmelte ich auf dem Bett, mit Kopfhörern auf den Ohren. Vor meinem inneren Auge inszenierte ich dichterische Szenen, bei Schneefall schlenderten wir unter lauschig leuchtenden Laternen durch die Altstadt. Mein Liebster trug einen langen Mantel, er zog mich unter seinen Saum und hielt liebevoll meine Hand im Fäustling. Dann kehrten wir in ein spärlich beleuchtetes Café ein, auf den alten Tischen standen Kerzenhalter, das flackernde Licht erleuchtete mein Gesicht. Im Hintergrund sang Leonard Cohen mit seiner klangvollen Stimme „Take this waltz, I’m your man“. Gespräche führten wir keine in meinen Träumereien, Umarmungen gab es dafür reichlich.            
            In einer ausgedehnten Traumphase passierte es plötzlich, da war es bereits November. Wir standen im Epizentrum der außerschulischen Lebensplanung – der vergitterten Garderobe – und zogen uns die Straßenschuhe an. Ich kramte gerade nach etwas in meiner Tasche, als er sich schwungvoll gegen die Tür lehnte und mich ansah. Die Stäbe der Gitterwand bebten, ich wendete meinen Kopf. Hör mal, was, wenn wir Freitagabend, was meinst du, in der Altstadt, einen Drink oder zwei?          
            Die Zeit blieb stehen. Dreißig Paar Turnschuhe in Plastiktüten hingen an ihren Haken, die Putzfrau raschelte mit ihren Lappen. Aus der Ferne hörte man jemanden in der Sporthalle mit einem Ball dribbeln, die Sonne schien, aus der Kantine wehte der Geruch von Kohl herüber. Freitagabend, er und ich, in der Altstadt! Ein Drink oder zwei! Ich fühlte mich wie ein Glückspilz. Mein Herz pochte, alles war wie im Film. Ich krallte mich krampfhaft an den Träger meiner Tasche. Machen wir, nickte ich, lass uns nachher reden, ich habe jetzt meine Klavierstunde. Ich griff nach meinen Noten und ging hinaus. Hinter der Schule stützte ich mich an die Wand. So spürte ich, wie sich ein drittes Auge öffnete, mit dem ich bald ein vollwertiges Leben erfassen sollte, das am Freitag um achtzehn Uhr begann.
            Tag für Tag wurde ich nur noch nervöser, ich war vorher noch nie mit so einer Sache in Berührung gekommen. Anstatt mich mit Jungen zu beschäftigen, verbrachte ich meine Freizeit mit Üben, in die Altstadt ging ich nur für Konzerte. Wohin er mich wohl ausführen wollte? Würde man uns hineinlassen? Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er mich nicht um Rat fragen würde. Ebenso wenig wusste ich, was ein Drink oder zwei bedeuten sollte. Bier und Kaffee trank ich nicht, Wein verkaufte man mir nicht. Könnte ein Drink oder zwei auch Kakao sein? Ich hatte dutzende Fragen. Mein Unwissen mischte sich mit Adrenalin, Nervenkitzel mit Wunschvorstellungen. Ich wusste nicht mehr, ob ich fröhlich oder ängstlich war, ob ich den Freitag mit Spannung erwartete oder nur den Gedanken daran.                  
            Die Uhr jedoch tickte unaufhaltsam, und schließlich war es soweit. Donnerstagabend bildete sich eine dicke Schneedecke, und ich bekam Durchfall. Schon in der Nacht brachen winterlich-frostige Temperaturen ein, sie sanken mit jeder Stunde. Als ich am Freitag in die Stadt fuhr, zog ein Schneegestöber auf, die Menschen froren an den Haltestellen, die Nasen waren in den Kragen vergraben. Ich war schrecklich nervös, ging unterwegs auf Toilette, den Player mit Leonard hatte ich zuhause vergessen. Beim Busfahrer lief russischsprachiges Radio, die Fenster waren beschlagen, der Trolleybus knirschte. Zwischendurch sprang das Geweih aus der Leitung, aber nichtsdestotrotz erreichte er sein Ziel. Hinter der Ecke des Rathauses kontrollierte ich noch flink den Lippenstift, der winzige Spiegel beschlug.     
            Er wartete in der Mitte des Platzes auf mich, in einer riesengroßen Wattejacke wie ein Michelin-Männchen, und wärmte sich die Hände. Während ich auf ihn zuging, musterte ich ihn. Auf seiner Mütze stand KARHU, vom Schal war keine Spur, auch von der Aktentasche nicht. Wir umarmten uns verlegen, und er führte mich in einen Pub, der im Grunde genommen nur Schüler und Finnen anzog.                   
            Wir setzten uns in eine dunkle Ecke, auf dem Tisch brannte eine Kerze, ich schob meinen Ranzen unter den Stuhl. Die Fäustlinge stopfte ich in meinen Jackenärmel und schielte dabei heimlich zu ihm und seiner leuchtend roten Nase. Das rote Fußballshirt unterstrich seine hellen Wimpern. Meine eigene rote Nase lag verborgen unter der Abdeckcreme meiner Mutter. 
            „Was hättest du gerne?“
            Ich spähte zum Nachbartisch und wusste nicht, was ich wählen sollte. An Geburtstagen hatte ich selbstverständlich schon einmal Wein probiert, aber ich zog stets Pflaumensaft vor. Birnencider? Und was waren Cuba Libre und Sambuca? Ich fischte nach der Getränkekarte und biss mir auf die Lippe. Mein Gefährte rief zur Bar: „Garçon, ein Originaal!“ Ein schnurrbärtiger Mann kam mit einem Bier. Gott im Himmel, ich weiß nicht, einen Kakao vielleicht? Der Mann schmunzelte und verschwand hinter der Theke. Ich kratzte etwas Wachs von der Kerze und errötete. 
            Je weiter die Zeit fortschritt, desto unwohler wurde mir. Ich nippte an dem Getränk, drehte den Löffel hin und her, mir war flau zumute. Er war auch aufgeregt, spülte sein Bier hinunter, über seiner dünnen, roten Oberlippe kräuselte sich der Schaum. Die kleinen dünnen Haare hatte ich dort noch nie bemerkt. Dann fing er ein Gespräch an, laut, die Sommis am Nebentisch blickten herüber. Wir durchquerten im Schnelllauf die Themen Tallinn vs. Tartu, Saku vs. A le Coq, Hemingway, Kerouac, Pulp Fiction, Fight Club, Monty Python, Beavis & Butthead, Roskilde, Sziget. Nacharbeit, der Geschichtslehrer, Eurovision, Tarantinos neuster Film. Dann trat Stille ein. Er stand auf und holte sich ein neues Bier. Sein Gang schien irgendwie federnd. Ich stahl mich zur Toilette und färbte meine Lippen, die letzte Schicht war am Tassenrand geblieben.  
            Als ich zurückkam, drehte er sein Bierglas in der Hand, den Blick am Fernseher, dort wurde Fußball gespielt. Wir sprachen ein bisschen über die englische Liga und davon, wie Sport den Krieg fernhält. Er hatte in diesem Bereich umfassende Kenntnisse, aber dann gingen ihm wohl auch diese aus. Ich griff nach einem Stück Zucker und wärmte die Hände an der Tasse. Spannung lag in der Luft, was jetzt wohl käme. In meinem Inneren trat eine ekelhafte Vorahnung an den Platz von Romantik und Nervenkitzel, die Stille nahm zu, die Zeit um uns dehnte sich.    
            Mein Gefährte zappelte auf seinem Stuhl hin und her und beugte sich nach vorne, sein Adamsapfel zuckte. Ich schluckte. Dann schob er die Kerze zur Seite, beugte sich auf den Tisch, die rechte Hand vorgestreckt. Ich senkte meinen Blick ruckartig, in meinem Bauch stach es wie vor einer Prüfung. Ich spielte mit meiner Tasse, mein Herz pochte. Die Haut an seinen Fingerknöcheln war rau und rot… und dann rutschte die Hand langsam näher.            
            Ich erstarrte auf meinem Sitz und stierte auf sein Handgelenk, das mich an eine fette Kreuzotter erinnerte. Sie kroch langsam aber bestimmt in meine Richtung, ich saß gelähmt da wie eine verängstigte Maus. Die Hand hielt nicht an, sie kam immer näher, bereit zuzugreifen, zu verschlingen … schließlich erwachte ich aus der Trance, ich zog meine Handfläche vom Tisch und stieß dabei plump gegen die Kerze. Das flüssige Wachs löschte die Flamme, doch die Kerze blieb aufrecht stehen. Auch seine Hand zog sich zurück.      
            „Bestellen wir noch etwas?“ 
            Unbeholfen verkrampfte ich meine Hand unter den Sitz, sein ManU-Shirt flammte vor meinen Augen auf. Ich bemerkte abscheuliche kleine Pusteln an seinem Hals. Der Typ meiner Träume hatte keine Pusteln. Und generell war alles anders, auch die Haare auf seinen Armen und der unsichere Blick. Ich wollte mit ihm nicht im Schneefall spazieren gehen gehen, vom Händchenhalten ganz zu schweigen. Ich wollte in mein Zimmer, an mein Klavier, zu den Büchern, wo es nicht so einen Ochsen gäbe; ich wollte mit meinen Eltern die Nachrichten schauen und Uncle Ben's mit Ananas essen. 
            Die Uhr hatte die Zehn erreicht, da gingen wir endlich. Schnell mit dem Taxi nach Hause, dachte ich nur. Das Universum hatte jedoch andere, bösartigere Pläne. Wir traten nach draußen, der Wind schlug uns ins Gesicht, das Thermometer am Rathaus zeigte –20. Der Taxistand war leer. Die gelben Wagen fuhren an uns vorbei. Mit den Piraten – den illegalen – durfte ich nicht fahren. Die Laternen flimmerten. Also joggten wir, unsere Rücken vor Kälte gekrümmt, am Kiosk vorbei bis zur Haltestelle. Die Stadt war wie ausgestorben, nur einzelne Gestalten hier und da.  
            Ich spürte, wie meine Zehen in den Stiefeln vor Kälte stachen, die Autos rauschten vorbei, auf dem Weg türmten sich überall hohe Schneewehen auf. Der Trolleybus kam rasch, er hielt mit einem Ächzen an, das helle Licht stach in den Augen. Bald zu Hause, dachte ich erleichtert, aber dann trat er näher, und ich begriff erschrocken, dass der Abend noch lange nicht vorbei war. Er wohnte auf der anderen Straßenseite von uns, und plötzlich wusste ich genau, was mich erwartete. Er würde mich nach Hause bringen und dann, vor der Haustür, auf der Treppe... Die Vorahnung ließ meine Beine schwach werden.              
            Der Trolleybus schaukelte und krachte, und die Haltestellen flogen an uns vorbei. Ich hatte regelrechte Panik. Ich wollte nicht, dass mein erster Kuss in der gelben Dämmerung eines Betonplattenbaus mit meinem beflaumten Klassenkameraden stattfinden würde, schrecklich, schrecklich, was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Die Türen öffneten sich, und auf die unterste Stufe fiel jede Menge feiner Schnee. Und dann sah ich meine Gelegenheit.     
            Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell. 
            Ich sprang hinaus in den pfeifenden Wind. Ab hier laufe ich. Du hast den längeren Weg, nimm den Trolleybus! Er starrte mich überrascht mit offenem Mund an, reagierte aber schnell. Und da war er wieder.                      
            Wir stapften weiter. Der Wind wirbelte zwischen den Plattenbauten hindurch. Drei Haltestellen, ich zählte sie hinunter. Die Zeit tickte gnadenlos, die Straßenlaternen schienen gedimmt. Es gab elektrische Dreiecke an den Fenstern, in einiger Entfernung erklang der nächste Trolleybus. Die kahlen Bäume warfen ihre Schatten in den Schnee, die Rohre der Geräte auf dem Spielplatz leuchteten. Was ist, wenn ich sie anlecke, dachte ich verzweifelt, um es hinauszuzögern...      
            Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen. 
            Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.
            Wir waren bereits am Laden vorbei, als ich mich entschied: Stopp - schnelles Ende, beim nächsten Laternenpfosten sage ich es ihm. Mein Herz pochte, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich wollte nach Hause gehen oder das Weite suchen. 
            Wir passierten den nächsten Pfosten, und dann noch einen, und nun, ich konnte nicht, es war eine Schande. Ich zählte sie: eins, zwei, drei, vier ... Nummer acht war weit, dort sage ich es ihm. Wir kamen am dritten Pfosten vorbei. Ob wir langsamer gehen sollten? Die Angst wuchs, der Pfad wurde enger. Aber ich wäre bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, wenn das nötig gewesen wäre. Der Frost ließ meine Zehen taub werden. Endlich standen wir vor meinem Haus.        
            Die Lampe über den Stufen flackerte. Er blieb stehen und zog die Handschuhe aus. Ich schaute mit klopfendem Herzen nach unten und wusste, dass es kommen würde. So ein schöner Abend! Du bist ein besonderes Mädchen. Könnte ich...?"           
            Kannst du nicht!, seufzte ich innerlich.          
            Die rote Nase kam näher, das KARHU-Etikett kam näher. Ich roch Deo und Bier. Es gab keinen Pfosten mehr, keinen Rückzugsort. Die Zeit war abgelaufen. Ich will zurück, schaffte ich noch zu denken. Auch das noch!            
            
Die Pfosten waren zurück, der Zehnte, der Neunte, die Panik und die Schneewehen. Der Wind trug uns fort, und wir schwebten an die Haltestelle, in den Trolleybus. Der schaukelte rückwärts in die Stadt, die Zeit trieb uns in die Kneipe, zum Tisch ganz hinten. Und dann waren wir wieder in der Schulgarderobe.             
            Hinter den staubigen Fenstern leuchteten Bäume, es hatte noch nicht zu schneien begonnen. Aus der Turnhalle hörte man einen Ball gegen die Wand prallen. Hör zu. Was, wenn wir Freitagabend ... einen Drink oder zwei?      
       
*

Ich fuhr zusammen. Die Tür zum Flur öffnete sich, meine Lehrerin stand vor mir. Sie winkte mich zu sich und schloss die Tür. Komm, lass uns kurz reden.      
            echnisch war alles einwandfrei, sie waren mit der Etüde und dem langen Stück zufrieden. Beherrscht das Instrument, hatte jemand notiert, überzeugend und sicher, Talent ist da. Nur diese Phantasie, schwach und halbherzig, wenig nuanciert, dazu flach, verträumt. Chopin dagegen - mehr Mut und Tempo! Lass sie nochmal spielen, mit Hingabe. Immerhin steht ein Stipendium auf dem Spiel. Einverstanden?   
            Ich senkte den Blick, meine Kehle schnürte zu. Auch das noch, dachte ich. Mama muss heute Krapfen machen, die mag ich am liebsten.

 

Aus dem Estnischen von Marcel Knorn


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